Kapitel 1
Liv Halston klammert sich an das Geländer auf dem Eiffelturm, blickt durch die Rauten des Sicherheitsgitters auf Paris hinunter und fragt sich, ob schon jemals zuvor irgendwer so katastrophale Flitterwochen erlebt hat.
Um sie kreischen Touristen, zucken vor der Aussicht zurück oder lehnen sich demonstrativ an das Gitter, um sich von ihren Freunden fotografieren zu lassen, während ein ungerührter Wachmann sie im Blick behält. Von Westen her ziehen grollende Gewitterwolken heran. Livs Ohren sind in dem frischen Wind rosa geworden. Jemand wirft einen Papierflieger, und sie beobachtet ihn, wie er auf seinem Spiralkurs nach unten segelt, manchmal von einer Böe wieder emporgehoben, bis er zu klein ist und sie ihn aus den Augen verliert. Irgendwo da unten zwischen dem eleganten Boulevard Haussmann, den winzigen Innenhöfen, den klassischen Parkanlagen und den sanften Windungen der Seine ist ihr frischgebackener Ehemann. Der Ehemann, der sie nach zwei Tagen Hochzeitsreise darüber informiert hat, dass es ihm wirklich leidtue, er an diesem Vormittag aber einen Geschäftstermin wahrnehmen müsse. Irgendwo am Stadtrand. Nur für eine Stunde. Er wäre nicht lange weg. Das wäre doch okay für sie, oder nicht? Derselbe Ehemann, dem sie erklärt hatte, dass er, wenn er jetzt das Hotelzimmer verlasse, gleich ganz verschwinden könne und nicht zurückkommen müsse.
David hatte gedacht, sie würde einen Witz machen. Sie dagegen hatte gedacht, er würde einen Witz machen. Er musste beinahe lachen.
«Liv, diese Sache ist wichtig.»
«Genau wie unsere Flitterwochen», hatte sie zurückgegeben. Und wie sie sich angestarrt hatten; als hätten sie sich noch nie gesehen.
«Oje. Ich glaube, ich muss wieder runter.» Eine Amerikanerin mit hellbraunem Haar und einem riesigen Geldgürtel um die Taille verzieht das Gesicht, als sie sich an Liv vorbeischiebt. «Ich vertrage die Höhe nicht. Spüren Sie, wie es schwankt?»
«Das ist mir nicht aufgefallen», sagt Liv.
«Mein Mann ist genau wie Sie. Die Ruhe selbst. Er könnte den ganzen Tag hier oben stehen. Ich war schon mit den Nerven am Ende, als wir in diesen verdammten Aufzug gestiegen sind.» Sie schaut zu einem bärtigen Mann hinüber, der mit einem teuren Fotoapparat ein Bild nach dem anderen schießt, erschauert und hält sich am Geländer fest, als sie zum Aufzug zurückgeht.
Er ist braun gestrichen, der Eiffelturm, schokoladenbraun. Eine auffallend hässliche Farbe für eine so filigran wirkende Konstruktion. Liv dreht sich halb herum, um eine Bemerkung darüber zu David zu machen, bevor ihr wieder einfällt, dass er ja nicht da ist. Als er eine Woche Paris vorschlug, hat sie sich vom ersten Moment an vorgestellt, wie sie mit David hier oben stehen würde. Sie beide, eng umschlungen, vielleicht am Abend, wie sie auf die Stadt der Lichter schauen. Sie trunken vor Glück. Er mit dem Blick, mit dem er sie bei seinem Heiratsantrag angesehen hat. Und sie mit dem Gefühl, die glücklichste Frau auf der Welt zu sein.
Dann waren aus einer Woche fünf Tage geworden, weil er am Freitag in London ein Meeting hatte, das er auf keinen Fall verpassen durfte. Und jetzt schrumpften die fünf Tage weiter zusammen, weil es überraschend in Paris das nächste Meeting gegeben hatte, das er auf keinen Fall verpassen durfte. U