1. Kapitel
Sommersonnenwende2008
Es ist einer dieser lauen Abende, an denen die Luft satt ist von Düften, Klängen und Sehnsucht. Das Licht wechselt allmählich ins Rötliche, aber immer noch ist es hell, auch zwei Stunden vor Mitternacht. Niemand, so scheint es, mag nur einen Augenblick dieser magischen Nacht verschlafen. Im ganzen Park verteilt sind Grüppchen von Leuten; Familien, Freundescliquen, seltener auch einzelne Menschen, die in Notizbücher schreiben oder rauchen oder beides. Aus einem der Häuser am anderen Ufer schwebt Klaviermusik herüber, Lachen und Gesprächsfetzen.
Obwohl wir mitten in der Stadt sind, mitten in diesem Sommer voller Leben, bildet das zartgrüne Blätterdach der Robinie einen Schutzraum für uns. Der Platz unter dem Baum am Ufer der Oker gehört nur uns, Maris und mir. Der ganze Abend gehört nur uns, so kommt es mir vor. Schon seit dem Nachmittag sind wir hier, und wir werden die Letzten sein, die den Park verlassen, weil dieser Tag nicht zu Ende gehen darf.
Die Robinie reckt einen ihrer Äste waagerecht über den Fluss. Die Rinde ist dort glatt von den vielen Füßen, die darauf entlangbalanciert sind, von den vielen Körpern, die aneinandergeschmiegt dort gesessen haben wie Maris und ich jetzt. Wir lassen die Zehen ins kühle, grüne Flusswasser baumeln, sehen dem Glitzern der Kräuselwellen zu und sind miteinander zu Hause, einfach so. Mit Maris ist es leicht, sich zu Hause zu fühlen. Alles ist mit ihm leicht, sogar Träumen. Er hat diese Art an sich, als sei das Leben ein einziges großes Zauberland voller Wunder und er derjenige, der sie entdeckt.
Eine Weile haben wir auf der alten Picknickdecke gelegen, die schon mein Vater und ich genutzt haben. Wir haben geredet und getrunken und gelesen, vor allem aber haben wir uns geküsst. Den Sekt und die Erdbeeren hat Maris mitgebracht, ich dafür die Decke und Chips. Inzwischen sind die Chips aufgegessen, eine leere Sektflasche drückt eine Kuhle in die Decke. Maris deutet von unserem Platz auf dem Robinienast aus mit dem Kopf ans Ufer. »Wir sollten dieses Stillleben fürZeichnen I festhalten.Junge Menschen im Sommer soll es heißen. Irgendwann wird es internationale Berühmtheit erlangen«, sagt er, und ich frage mich, warum er uns alsjunge Menschen bezeichnet, als sei er selbst es nicht.
»Junge Menschen in einem Sommer, der nie enden sollte«, sage ich leise.
Maris hat den Arm um mich gelegt. Bei dem sanften Lachen, mit dem er mir antwortet, spüre ich das Beben seines Brustkorbs.
Eine Entenfamilie zieht schnatternd vorbei, über uns spielt der Sommerwind mit den Blättern.
Ich schmiege mich enger an Maris, atme ihn ein, speichere den Duft seiner Haut, die Wärme, die er in mir erzeugt, für die kommenden Monate. Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, dehnen sie sich unbarmherzig aus und werden unüberwindbar. Wie soll ich einen ganzen langen Spätsommer, einen Herbst, einen Winter und einen Frühling ohne ihn sein? Meine Augen fangen an zu brennen. Aber ich will Maris die Vorfreude auf New York nicht verderben, also lenke ich ab, vielleicht uns beide. »In der einen Flasche war noch Sekt, oder?«
»Ich könnte sie für dich holen«, sagt er träge. »Dazu müsste ich allerdings aufstehen und um dich herumbalancieren, ohne ins Wasser zu fallen.«
Statt einer Antwort richte ich mich auf, bevor er merkt, dass ich meine Tränen nur mühsam wegatme, und rutsche die wenigen Zentimeter vom Baum, bis meine Füße den sandigen Boden im Wasser finden. Ich reiche Maris die Hand.
Er ergreift sie und geht daran über unseren Ast ans Ufer, wo er mich nach oben und in seine Arme zieht. »Ich liebe dich, Johanna.« Mit dem Daumen wischt er mir nacheinander über die Innenseiten beider Augen, wo die Tränen warten. »Vergiss das nie.«
»Ich liebe dich auch«, höre ich mich sagen, und in diesem Moment wird mir klar, dass ich diese Worte noch nie vorher ausgesprochen habe. Zu niemandem. Aber möglicherweise kann ich mich auch nur nicht daran erinnern.
Eine ganze Weile stehen wir einfach da, barfuß im langen Gras im Schatten der Robinie, und halten uns im Arm. »Ich komme doch wieder«, flüstert Maris.
Ich murmele gegen seine Kehle: »Das hoffe ich.«
»Es geht ja nicht anders. Du bist hier.«
Nebeneinander legen wir uns auf die Decke. Sie ist auf Höhe meiner Schultern zu Ende, mein Kopf sinkt ins weiche Gras. In mir ist so unendlich viel Liebe und Sommer und Sehnsucht, dass ich fast zerberste.
Ich a