: Heinrich Mann
: Stürmische Morgen
: SAGA Egmont
: 9788726885538
: 1
: CHF 4.40
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: Erzählende Literatur
: German
: 55
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Vier Novellen, die Heinrich Mann Anfang des 20. Jahrhunderts verfasste und in denen er die erste Liebe, das sexuelle Erwachen und die Frage nach Macht thematisiert: In 'Heldin' ist es eine junge Frau, die den Freitod wählt, als sie einsehen muss, dass sie nicht zurückgeliebt wird; in 'Der Unbekannte' schafft ein junger Mann es nicht, sich seiner Angebeteten zu nähern; in 'Abdankung' stellt sich die Frage, wie weit Macht gehen kann; und in 'Jungfrauen' werden zwei Schwestern beinahe zu Rivalinnen. -

Heinrich Mann (1871-1950), der ältere Bruder von Thomas Mann, war ein deutscher Schriftsteller, der aus der berühmten Schriftstellerfamilie Mann aus Lübeck stammt. 1933 wurde er von den Nazis aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen und emigrierte via Frankreich in die USA. Seine Werke sind oft gesellschaftskritisch und befassen sich mit den autoritären Ansätzen des Deutschen Kaiserreichs während des Wilhelminismus.

Heldin


Der junge Beamte streckte den Kopf aus dem Schalter.

»Kommen Sie nur alle Tage selbst, Fräulein«, rief er Grete Pinatti nach; »dann sind wir bereits ein Postamt erster Klasse.«

Grete lachte, über ihren Fächer hinweg, laut auf. Lina drehte sich ernst lächelnd um, und vor ihr machte er eine kleine scheue Verbeugung.

»Er hat Angst vor dir, er muß in dich verliebt sein«, meinte Grete. Lina verzog ein wenig den Mund, träumerisch geringschätzig.

Die heiße Luft schlich ihnen entgegen; der Platz brannte weiß im weiten Bogen der Häuser mit gebauchten Balkonen und geschlossenen grünen Fensterläden.

»Jetzt zum Bertanza«, sagte Grete; und sie betraten den dumpfigen Schatten des mit Stoffen und Schachteln vollgestopften Ladens. Während sie Bänder aussuchten, raunte Grete:

»Er hat sie wieder geprügelt; siehst du die Streifen?«

Linas tiefschwarze Augen senkten sich auf das Gesicht der Verkäuferin; dies mürrisch verschlossene Gesicht ging plötzlich auf, wie eine verzauberte Pforte unter dem Stabe der Fee, und das Mädchen lächelte: einfältig entzückt.

Nun bogen sie in die enge Gasse, es roch darin nach Wein; und da klapperte eine schmutzige Glastür, Stimmen brachen wüst heraus, und ein Betrunkener taumelte nach der Hauswand gegenüber und ließ sich mit dem Rücken daranfallen. Grete zog Lina am Arm.

»Was tust du? Nicht so nahe! Er ist böse, wenn er betrunken ist. Du hast doch gesehen, wie er seine Tochter zugerichtet hat.«

Linas Blick ließ zögernd die glasigen Augen los, die nichts begriffen; und sie seufzte. Hinter ihnen ward ein leises Räuspern vernehmlich und dann eine verschleierte Stimme.

»Eigentlich wollte ich nach der andern Seite; wenn man aber Sie des Weges gehen sieht, Fräulein Clemens: Sie haben einen Gang wie eine kleine Heerführerin, leicht und feierlich, wissen Sie. Niemand würde wagen, Ihren Arm zu berühren, aber alle müssen Ihnen folgen. Sehen Sie die Anstrengungen jenes Trunkenboldes?«

Grete jauchzte.

»Ihnen kann man begegnen, wann man will, immer sind Sie komisch!«

»Wie kommt es«, sagte der junge Mann bewegt, »daß von Ihnen, die selten lächelt, eine strenge Heiterkeit ausgeht, von der alle schüchterner und besser werden?«

Grete wollte wieder loslachen, aber es gelang nicht; sie sah beleidigt aus. Der junge Mann begann zu husten und konnte nicht mehr aufhören. »Die Nerven!« brachte er hervor. Lina sah ihm in die Augen, in die Tränen der Qual traten.

»Ich danke Ihnen«, sagte er, sobald er sprechen konnte.

»Wir wollen langsamer gehen«, bestimmte Lina. Ihr schwaches, unklares Organ klang wie das eines Knaben, der die Stimme wechselt.

Ketten bunter Früchte hingen vor den Gewölben; Mädchen in schwarzen Umschlagtüchern und mit Rosen vor der Brust drehten sich in den Hüften, bewegten Fächer und Augen; schreiend spielten die Burschen Morra; Harmonikatöne und fette Gerüche stiegen zum Himmel auf, der festlich zwischen den Dächern hinfloß. Grete flüsterte im Gedränge:

»Kein Gedanke, daß Sie mich heute in der Badehütte sehen.«

»Ich sehne mich nicht nach der Badehütte«, antwortete der junge Mann. »Ich wollte, wir könnten uns besser lieben.«

»Bequemer könnten wir's doch nicht haben«, meinte Grete erstaunt. Er drängte von ihr weg.

»Sehen Sie, Fräulein Lina, am Ende dieser engen, wimmelnden Gasse den Turm, den stillen, grauen Wachtturm am Hafen? Seit tausend Jahren steht er dort; hinter sich die Stadt, vor sich den See in seinen blauen Luftschleiern, worin der Umriß des Gebirges sich verstrickt, aus denen sonst, wie aus der Ewigkeit, Feinde auftauchten, und in die sie, abgeschlagen, zurücksanken. Wie viele Geschlechter haben dem alten Wachtturm ihr Heil verdankt! Noch das heutige geht, ohne selbst darum zu wissen, in einem zärtlichen Vertrauen durch seinen breiten Schatten hin. Auch wenn man Sie ansieht, Lina, beruhigen sich die Mienen; das Böse, aus der Ewigkeit hergefahren, weicht in sie zurück; und eine Weile spüren wir in unsern eigenen Augen, in unserer Brust eine kaum begreifliche Güte, einen wunderbaren Frieden … Sie halten mich hoffentlich nicht für verliebt?«

»Ich möchte Ihnen eine Frucht kaufen, Herr Roland, dort bei dem Alten; wollen Sie? Schon gibt es Feigen, und Sie lieben sie, haben Sie gesagt.«

Lina bot ihm die Frucht; da sah sie Grete, die abseits stand, spöttisch und doch mit einem Gesicht wie eine Ausgestoßene.

»Geben Sie sie ihr!« sagte Lina rasch. Er sah sie an; sie bat erschrocken: »Tun Sie's!«

Er eilte auf Grete zu. Wie sie ihn kommen sah, begrüßte sie mehrere Offiziere und blieb mit ihnen stehen. Roland kehrte zu Lina zurück und zu dem Alten.

Der Alte lehnte inmitten des Hafenplatzes an seinem gelben, mit Papierblumen und Fähnchen ausstaffierten Karren und begeisterte sich mit hoher, dünner Stimme für seine Ware. »Was für schöne Trauben!« schrie er fast weinend. Plötzlich aber verfiel er in Keifen, weil hinter seinem Rücken ein Junge eine wegnahm. Ein Auflauf entstand; ein Gendarm schritt ein.

Lastträger, Zolleute, Schiffer schoben sich, die Hände in den Taschen, durcheinander, verwickelten sich plump in den leichten, schwankenden Gewinden lachender Mädchen. Kleine, behende Hausfrauen auf klappenden Holzschuhen, in den Haaren noch den Staub der Woche, machten unter den Steinlauben, feilschend und jammernd, ihre Einkäufe für den Sonntag. Die blonden, langen Soldaten in ihren graublauen Joppen sprachen ernsthaft deutsch über die Köpfe der kleinen lauten Italiener hinweg. Höher als alles Volk und seinem Qualm entrückt, blickte der heilige Bischof – und sein steinernes Chorhemd flatterte – auf die im Hafen leis knarrenden Lastbarken hernieder. Da entstand auf einem der Schiffe Bewegung und Lärm: die Finanzwache zerrte einen Schmuggler aus seiner Kajüte hervor. Seine Miene war von Wut ganz zerrissen und blutig rot; er hatte die heisere Stimme eines Kettenhundes. Unversehens erschlafften seine Züge, und es war deutlich, daß er innerlich zusammenfiel.

»Warum freuen alle sich? Es ist doch traurig«, sagte Lina. Grete war wieder da, und sie lachte noch.

»Wenn das nicht komisch ist!« brachte sie hervor. »Was man heute alles sieht!«

Der junge Mann erklärte:

»Worauf man achtet und worüber man lacht in solcher Volksmenge, das ist immer traurig. Das andere fällt keinem auf. Ereignisse sind traurig.«

Lina sah ihm in die Augen und schüttelte dabei, kaum merklich, den Kopf; dann richtete ihr Blick sich, gerade und sicher wie ein Vogelflug, auf das andere Ende des Platzes.

»Dort unter dem Turm die Frau küßt das Kind, das sie trägt. Sie weiß nichts weiter, ist weit fort mit dem Kind und küßt es nur immer.«

»Niemand sieht es. Ein Haufe aber umsteht jene andere, gleich neben dem Brunnen, die ihr Kleines schlägt. Sie kann kaum noch, und sie sieht haßerfüllt aus. Hören Sie den Jubel?«'

Lina senkte den Kopf.

»Ich tue Ihnen weh«, murmelte er.

»Nein. Ich bin nur traurig für Sie.«

»Warum? Sehen, was ist; das macht stolz genug.«

»Ich möchte, daß Sie das andere sähen: das, was sein könnte und im Grunde auch ist.«

»Also Träume. O wie gern ich in sie flüchte! Jetzt werden wir die Lange Straße hinansteigen, das holprige Pflaster mit den Marmorfliesen darin; und zu beiden Seiten schlummern die bröckelnden Paläste. Die Säulen der Portale ragen vor den halbrunden Fassaden; Rosengestrüpp fällt über die Türen; in den spitzbedachten Fenstern lauert es schwarz, hinter knotigen Eisengittern; das Lämpchen unter dem Madonnenbild an der Ecke funkelt. Da sind wir. Wie manche Nachtstunde – denn ich schlafe nicht – stehe ich mit verschränkten Armen im Schatten dieses Tores und erträume mir ein glänzendes Ausundein von Menschen mit freien, edlen Geistern, leicht und klar wie die Farben, in die sie gekleidet sind, biegsam und stark wie ihre Klingen. Keine Dürftigkeit, kein Schmutz und nichts Fragwürdiges ist in den Seelen; alles verläuft rasch und gut. Welch Leben!«

»Das meine ich nicht.«

»Ich weiß. Es ist eine opernhafte Verzauberung, aus der das Elend der Mimen durchbricht, und die nichts ändert.«

»Ich meine nicht, die Menschen verkleiden, sondern sie einfach lieben, mitten im Wochentag. Können Sie das nicht? Tun Sie's! – und ich weiß gewiß, Sie werden gesund werden.«

»Wo bleibt...