1. KAPITEL
„Sagen Sie, haben wir uns nicht schon mal irgendwo gesehen?“
Die neue Redaktionsassistentin hatte Sherry Campbell eine Weile aufdringlich angestarrt, bevor sie mit ihrer Frage endlich herausgeplatzt war. Sie bemerkte noch nicht mal, dass der Hochleistungskopierer derBedford World News schon längst keine Blätter mehr auswarf und geduldig auf ihren nächsten Knopfdruck wartete.
Aber die Assistentin dachte nicht im Entferntesten ans Kopieren. Sie hielt ihren Blick starr auf Sherry gerichtet, während ihre Stirn sich in tiefe Falten furchte. Angestrengt kramte sie in ihrem Gedächtnis. Verdammt noch mal, woher kenne ich diese Frau? überlegte sie fieberhaft.
Sherry unterdrückte einen genervten Seufzer.
Es war nichts Neues, dass wildfremde Leute durchblicken ließen, Sherry zu kennen. Manchmal ordneten sie das Gesicht sogar richtig ein, aber im Verlauf der Zeit geschah das immer seltener. Früher, auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, war es regelmäßig passiert. Und sie konnte nicht von sich behaupten, dass es sie ernsthaft gestört hatte. Damals.
Jetzt starrten die Leute genauso aufdringlich auf ihren dicken Bauch wie damals in ihr Gesicht. Deshalb hatte sie ihre Karriere aufgegeben. Ihre ungeplante Schwangerschaft hatte sie ihren Job als Sprecherin bei einer Nachrichtensendung gekostet. Natürlich hatte man nicht großartig darüber gesprochen, aber sie wusste genau, dass sämtliche Fernsehstudios höllische Angst davor hatten, der allabendliche Anblick einer Schwangeren könnte die öffentliche Meinung von Anstand und Sitte verletzen. Die Verantwortlichen hielten ihren Rausschmiss offenbar für eine Frage von korrektem Verhalten. Als sie ihre Schwangerschaft nicht mehr hatte verbergen können und Ryan Matthews informiert hatte, hatte der Leiter des Nachrichtenressorts sie schnellstens an einen Arbeitsplatz versetzt, an dem sie weniger auffiel als bei den Hauptnachrichten um fünf Uhr nachmittags.
Und noch am selben Tag hatte Matthews die erst kurz zuvor eingestellte Lisa Willows zur neuen Sprecherin ernannt. Nicht genug, dass Sherry jetzt in der Redaktion saß und die Texte schrieb, die Lisa Willows moderierte, Ryan Matthews wollte ihr auch noch einreden, dass sie einen wichtigen Schritt auf der Karriereleiter gemacht hatte. Seine Absichten waren leicht zu durchschauen, und als Sherry ihn damit konfrontierte, erklärte er ihr halbherzig, dass die Öffentlichkeit ihren „ausschweifenden Lebenswandel“ ganz sicher nicht tolerieren würde. Noch nicht mal heutzutage. Die Leute, hatte er behauptet, empfänden eine unverheiratete Schwangere immer noch als empörend, und ganz bestimmt verspürten sie nicht die geringste Lust, sie Abend für Abend in ihrem Wohnzimmer willkommen zu heißen.
Obwohl inzwischen fünf Monate vergangen waren, klangen Matthews Worte ihr noch immer im Ohr. Damals schien es ihren Chef nicht im Geringsten zu beeindrucken, dass der Schreibtisch im Fernsehstudio groß genug gewesen war, um ihren Bauchumfang vor dem Publikum zu verbergen. Und es schien ihn noch weniger zu interessieren, dass sie niemals einen „ausschweifenden Lebenswandel“ gepflegt hatte. Die Schwangerschaft war das Resultat der ersten und einzigen Affäre, in die sie sich in ihrem Leben gestürzt hatte. Als sie ihrem Liebhaber von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte, hatte er sich nicht anders zu helfen gewusst, als ihr die Adresse einer Abtreibungsklinik in die Hand zu drücken. Und Matthews besaß offenbar das Rückgrat eines Gummibaums. Er bog sich immer in die Richtung, aus der der Wind am stärksten blies, und in diesem Fall war das der Aufsichtsrat des Fernsehsenders.
„Schwangere Frauen spielen heutzutage sogar in Fernsehserien mit, ohne dass das Publikum etwas merkt. Warum soll ausgerechnet ich meinen Platz räumen?“, hatte Sherry beharrt, obwohl sie genau gewusst hatte, dass jede Argumentation überflüssig war. Höflich, aber entschieden hatte Matthews ihr mitgeteilt, dass sie ihren neuen Job entweder akzeptieren oder ihre Sachen packen sollte.
Also hatte sie ihre Sachen gepackt.
Nachdem ihre Wut auf Matthews verraucht war, nahm sie ihren Rausschmiss beim Fernsehen als Wink des Schicksals, sich wieder ihrer eigentlichen Leidenschaft zuzuwenden: dem Schreiben. Das bedeutete, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Vor seinem Ruhestand war Connor Campbell ein allseits respektierter und anerkannter Journalist gewesen. Sogar den Pulitzerpreis, die renommierteste Auszeichnung für Journalisten, hatte man ihm verliehen. Nur seinetwegen war sie überhaupt Nachrichtenjournalistin geworden.
Schon immer hatte sie Probleme entschlossen aus dem Weg geräumt. Nachdem sie einen Nachmittag lang ihrer zerstörten Karriere als Nachrichtenspre