KAPITEL 2
Franz Oswald saß bereits neben seiner Anwältin im Gerichtssaal, als Sofia hereinkam. Der Augenblick, vor dem sie so große Angst gehabt hatte, war gekommen. Sie verlor den Boden unter ihren Füßen. Ihr drehte sich der Magen um, aber dann gelang es ihr, die Übelkeit hinunterzuschlucken.
Nimm einen tiefen Atemzug.
In letzter Zeit kam die Angst immer seltener, aber wenn sie kam, war es wie ein Schlag in die Magengrube. Sie hob den Kopf, ihre Blicke trafen sich. Die Erinnerungen überwältigten sie mit einer solchen Kraft, dass sie es kaum aushalten konnte. Sie verabscheute ihn tatsächlich so sehr, wie sie es sich schon gedacht hatte, andererseits hatte die vollkommene Abwesenheit von Hass in seinen Augen etwas Entwaffnendes. Er wandte den Blick als Erster ab. Und gab ihr dadurch wieder Raum zum Atmen, den sie auch dringend benötigte, um sich mit bleischweren Beinen zum Stuhl zu schleppen und hinzusetzen.
Zuerst überkam sie die Erleichterung in Wellen und dann die Wut.Er soll verrotten. Jetzt bin ich es, die das Sagen hat.
Elvira und Sofia waren die Klägerinnen in dem Prozess. Ein ausgesprochen ungleiches Paar. Elvira verbrachte die Vorbereitungen der Verhandlung mit einem nie versiegenden Strom aus Tränen. Sofia hingegen verdrängte alle Gefühle. Stur biss sie die Zähne aufeinander. Sehnte sich nach dem Augenblick, wenn alles endlich überstanden war.
Der Gerichtssaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Medien rieben sich die Hände bei dieser Sache, die alle anderen Nachrichten in den Hintergrund drängte, Politik, Kriege und Katastrophen. Alle Artikel waren mit Fotos von Oswalds nüchternem und besonnenem Gesichtsausdruck und seinem durchdringenden Blick versehen. Es gab Blogs, Forumsdiskussionen und Internetseiten, die sich für oder gegen ihn aussprachen. Kein Tag verging, an dem der Fall nicht in den Nachrichten erwähnt wurde. Wie Hyänen hatte eine Gruppe von Reportern anfangs das Haus ihrer Eltern belagert, in der Hoffnung, ein schmuddeliges Detail über Oswald aufdecken zu können. Obwohl sie einen weiten Bogen um die Reporter gemacht hatte, waren ihr Attribute angedichtet worden wie »religiöse Fanatikerin« oder »Oswalds Schneckchen«. An die hundert Male wurde sie als »mutig« beschrieben, ein Adjektiv, das die Medien liebten. Aber sie hatte konsequent alle Interviewanfragen abgelehnt. Es war noch zu früh, um so über dieses Thema zu sprechen.
Sie warf einen Blick zu Oswald, der seiner Anwältin Anna-Maria Callini gerade etwas zuflüsterte. Sie war nicht schön im klassischen Sinn, dazu waren ihre Gesichtszüge zu scharf, die Nase zu groß. Aber ihre Kleidung und ihr Make-up betonten die schlanke Figur und die großen, dunklen Augen. Sexy und herablassend wie sonst was. Wenn sie nicht das Wort hatte, ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen und starrte wahllos Leute an. Wie ein Raubvogel. Die Stimme dieses zarten Wesens war tief und heiser, und wenn sie das Wort erteilt bekam, gab es kein Halten. Es gab überhaupt nichts, das ihre durchdringende Stimme hätte ausschalten können.
Sie saßen eng nebeneinander, sie und Oswald. Seine Hand lag auf ihrer Stuhllehne. Er lehnte sich zu ihr rüber, flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin sie ein falsches, gekünsteltes Lächeln aufsetzte.
Als Sofia mit ihrer Aussage an der Reihe war, konzentrierte sie sich auf das Gesicht der Staatsanwältin, Gunhild Strömberg. Zwang sich, alles andere auszublenden. Es funktionierte auch. Ihre Stimme blieb fest, sogar während des unerbittlichen Kreuzverhörs von Anna-Maria Callini.
Am schlimmsten wurde es, als Elvira mit ihrer Aussage dran war. Denn um sie ging es in dem Gerichtsverfahren hauptsächlich. Sie war die Vierzehnjährige, die Oswald auf dem Dachboden eingesperrt und zu Strangulationssex gezwungen hatte. Sofias Aussage darüber, wie Oswald mit dem Personal umgegangen war, wurde in den Hintergrund gedrängt, als Elvira mit be