: Haruki Murakami
: 1Q84. Buch 1&2 Roman
: DuMont Buchverlag
: 9783832185404
: 1Q84
: 1
: CHF 11.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 1024
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Murakamis Opus Magnum: eine Welt neben der unseren! 1984. Aomame hat zwei verschieden große Ohren. Beim Rendezvous mit einem reichen Ölhändler zückt sie eine Nadel und ersticht ihn - ein Auftragsmord, um altes Unrecht zu sühnen. Tengo ist Hobby-Schriftsteller. Er soll einen Roman der exzentrischen 17-jährigen Fukaeri überarbeiten, damit sie einen Literaturpreis bekommt. Der Text ist äußerst originell, aber schlecht geschrieben - ein riskanter Auftrag. Aomame wundert sich, warum die Nachrichten ihren Mord nicht melden. Ist sie in eine Parallelwelt geraten? Um diese Sphäre vom gewöhnlichen Leben im Jahr 1984 zu unterscheiden, gibt Aomame der neuen, unheimlichen Welt den Namen 1Q84.

HARUKI MURAKAMI, 1949 in Kyoto geboren, lebte längere Zeit in den USA und in Europa und ist der gefeierte und mit höchsten Literaturpreisen ausgezeichnete Autor zahlreicher Romane und Erzählungen. Sein Werk erscheint in deutscher Übersetzung bei DuMont. Zuletzt erschienen die Romane>Die Ermordung des Commendatore< in zwei Bänden (2018), in einer Neuübersetzung>Die Chroniken des Aufziehvogels< (2020), der Erzählband>Erste Person Singular< (2021),>Murakami T< (2022) und>Honigkuchen< (2023).

KAPITEL 1 Aomame

Sich nicht vomäußeren Schein täuschen lassen

Aus dem Radio des Taxis ertönte das Klassikprogramm eines UKW-Senders. Die Sinfonietta von Janáček. Nicht eben die passendste musikalische Untermalung, um mit einem Taxi im Stau festzustecken. Der Fahrer, ein Mann mittleren Alters, schien auch nicht besonders hingebungsvoll zuzuhören. Schweigend blickte er auf die Schlange der Wagen vor ihnen, wie ein alter Fischer, der am Bug seines Schiffes steht und den gefahrvollenÜbergang zwischen zwei Meeresströmungen beobachtet. Die Augen sachte geschlossen und tief in die Rückbank gelehnt, lauschte Aomame der Musik.

Wie viele Menschen gab es auf der Welt, die Janáčeks Sinfonietta sofort erkannten, kaum dass sie den Anfang hörten? Vermutlich nur sehr wenige, aber aus irgendeinem Grund gehörte Aomame dazu.

Janáček hatte seine kleine Sinfonietta im Jahr 1926 komponiert. Das Thema war ursprünglich als Fanfare für ein Sportereignis gedacht gewesen. Aomame stellte sich die Tschechoslowakei im Jahr 1926 vor. Der Erste Weltkrieg war vorüber, endlich war man von der langen Herrschaft des Hauses Habsburg befreit, man saß im Kaffeehaus, trank Pilsener Bier, produzierte Maschinengewehre und genoss den flüchtigen Frieden, der in Mitteleuropa Einzug gehalten hatte. Franz Kafka hatte sich zwei Jahre zuvor unter traurigen Umständen von der Welt verabschiedet. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis Hitler auftauchen und das schöne kleine Land mit einem gierigen Biss verschlingen würde. Doch zu jener Zeit ahnte noch niemand etwas von dem bevorstehenden Grauen. Einer der wohl wichtigsten Lehrsätze, den die Geschichte für die Menschheit bereithält, lautet:»Damals wusste noch niemand, was vor uns lag.« Die Sinfonietta im Ohr und vor ihrem inneren Auge die böhmischen Wiesen, die sich im frei und unbekümmert darüberstreichenden Wind wiegten, ließ Aomame ihre Gedanken um das Wesen der Geschichte kreisen.

In Japan starb 1926 der Taisho-Tenno, und die Showa-Zeit– die»Ära des Erleuchteten Friedens«, wie die neue Regierungsdevise lautete– brach an. Eine düstere Epoche voller Leiden nahm ihren Anfang. Modernismus und Demokratie beendeten ihr kurzes Zwischenspiel, und der Faschismus breitete sich aus.

Geschichte gehörte neben Sport zu Aomames Hauptinteressen. Romane las sie so gut wie nie, aber von historischen Darstellungen konnte sie nicht genug bekommen. An der Geschichte gefiel ihr vor allem, dass alle Ereignisse mit konkreten, exakten Jahreszahlen und Schauplätzen verbunden waren. Sich historische Daten zu merken bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Auch wenn sie die Zahlen nicht gezielt auswendig lernte, fielen sie ihr automatisch ein, wenn sie den Gesamtzusammenhang der Ereignisse verstanden hatte. In den Geschichtsklausuren der Mittel- und Oberstufe hatte Aomame so gut wie immer die meisten Punkte in der Klasse erzielt. Sooft sie jemandem begegnete, der sich historische Daten nur schwer merken konnte, wunderte sie sich. Warum konnte jemand so etwas Einfaches nicht?