Kapitel 2 - Lysanna
Die Sonne stieg über den Horizont und tauchte die weite Steppe Kambrions in sanftes Dämmerlicht. In der Nacht hatte es aufgehört zu regnen und Nebel hing in dichten Schwaden über dem Lager der ›Angelus Mortis‹.
Der Clan von Verurteilten und Geächteten, der sich aus Elfen, Zwergen, Menschen und anderen Wesen zusammensetzte, lebte erst seit wenigen Wochen in diesem Dorf. Seit sie aus ihrer einstigen Heimatstadt Frostwall vertrieben worden waren, zogen sie umher, ständig den Gewalten der Natur ausgeliefert. Als der Schnee des vergangenen Winters zu schmelzen begann, hatten sie die Höhlen im Norden der Ebene verlassen.
Das weitläufige Dorf der Orks, welches dem Clan nun als zwischenzeitliche Zuflucht diente, hatten sie schon länger beobachtet. In der ersten Nacht, in der kein knirschender Schnee sie mehr verriet, griffen sie an.
Die meisten Orks hatten sie getötet, einige wenige waren geflohen, auch wenn sie sich noch in der Gegend herumtrieben. Die Gefangenen der Grünhäute, die in Käfigen im Zentrum des Lagers auf ihre Hinrichtung gewartet hatten, schlossen sich den ›Angelus Mortis‹ an.
Obgleich einige Hütten Opfer von Brandpfeilen geworden waren, bot dieses Dorf genügend Platz, sodass die äußeren Baracken noch immer unbewohnt waren. Dies bot dem Clan zusätzlichen Schutz, da eine scheinbar unbewohnte Siedlung unattraktiv für Trollüberfälle oder Banditenangriffe war. Die Orks wussten ohnehin, dass sie nicht mehr in ihr einstiges Zuhause zurückkehren konnten.
Lysanna schob das Fell vor ihrer Hütte zur Seite und trat hinaus. Frische Morgenluft wehte durch die schmalen Gassen der kleinen Siedlung. Der kalte Windhauch tat ihr gut, nachdem sie wieder einmal schweißnass aufgewacht war. Sie trug bereits die für sie typische Lederhose und ein braunes Leinenhemd, eine erfrischende Morgentoilette hatte sie sich jedoch noch nicht gegönnt.
Gegen den Eingang gelehnt, atmete sie tief ein. Mit den Fingern fuhr sie sich durch das dichte, schwarze Haar, welches eine Hand breit unterhalb ihrer Schultern endete, und schob es hinter die langen, spitzen Ohren. Seit Mitzums Verschwinden vor einigen Monaten war ihre einst rote Haarpracht dunkler als die Nacht geworden und spiegelte damit wider, wie es in ihrem Inneren aussah.
Wieder hatte sie einen dieser Träume gehabt, welche sie seit Wochen heimsuchten. Doch dieses Mal war es anders gewesen als sonst. Mit jeder Nacht, die sie träumte, waren die Wege ein wenig mehr verblasst, und heute waren sie fast ganz verschwunden. Deswegen hatte Lysanna eine Entscheidung gefällt und war einem der Wege gefolgt – zu ihrer Tochter.
Ganz fest hatte sie Fayori an sich gepresst und dabei verzweifelt Mitzums Namen geschrien. Doch ihr Gefährte hatte sich nur umgedreht und war mit dem Fremden, der die Gestalt ihres ehemaligen Gemahls hatte, davongegangen.
Noch immer erklang das furchtbare Gelächter in ihren Ohren, sah sie die rot glühenden Augen vor sich, die eindeutig nicht die von Orano gewesen waren.
Sie rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht, um die Schrecken der Nacht fortzuwischen. Da vernahm sie Schritte, die sich eilig näherten.
»Lysanna – gut, dass du wach bist. Es gibt Neuigkeiten!« Nikka, die Gefährtin des Ratsherrn Yokumo, kam mit schnellen Schritten auf sie zu. Dabei raffte die braunhaarige Elfe mittleren Alters ihren Rock, um nicht zu stolpern.
»Bei den Ahnen, du siehst furchtbar aus. Fast, als hättest du in der letzten Nacht kein Auge zugetan.«
»Ich wünschte, es wäre so gewesen«, antwortete Lysanna und seufzte. »Von welchen Neuigkeiten sprichst du?«, fügte sie rasch hinzu, um unnötige Fragen zu vermeiden. Sie konnte später mit Nikka über ihren Traum sprechen. In ihrem Amt als Druidin stand diese in enger Verbindung