Kapitel 1
Keinerlei Berührung. So lautet das oberste Gebot, das uns von Kindesbeinen an eingebläut wird, die einzige Regel, die wirklich von Bedeutung ist. Trage stets deine Handschuhe.
Ich werde diese Regel jetzt brechen.
Obwohl ich es nicht möchte. Noch während sich der erste Schlag meinem Gesicht nähert, wünschte ich, ich könnte eine andere sein, irgendjemand, ganz egal, wer. Jemand, der sich nicht so quält, nicht so kaputt ist.
Der Lärmpegel ringsum steigt an, das Gejohle und die Pfiffe werden lauter und lauter. Das Untergeschoss desLovely Molly ist voller Menschen. Die Männer tragen Wollmäntel und Filzhüte, die Frauen Hosenträger und typisch englische Melonen auf den Köpfen. Genau wie ich haben sie sich die Brust abgebunden, denn eigentlich dürften wir gar nicht hier sein. Natürlich erkennt uns trotzdem jeder, aber solange der Schein gewahrt bleibt, drückt man gern mal ein Auge zu.
Die Menge stinkt nach Bier und harter Arbeit, aber das ist noch harmlos gegen den Geruch, den ich bald verströmen werde. Schließlich kämpfen die nicht gegen Mister Zwei-Meter-Zehn – so lautet der Kampfname meines heutigen Gegners, ein Mann mit flauschig weichem Bart und Armen, die mir ohne die geringste Anstrengung das Genick brechen könnten. Der blonde Hüne ist ungefähr in meinem Alter, also noch keine zwanzig, und wäre ich ihm auf der Straße begegnet, hätte ich ihn vermutlich ganz attraktiv gefunden. Aber ich bin nicht hier, um ihm einen Antrag zu machen. Ich bin hier, um zu kämpfen.
Zwei-Meter-Zehn versucht erneut, mich zu erwischen. Schnell ducke ich mich weg und weiche nach hinten aus. Lautstarkes Buhen zeugt vom Unmut der Menge, aber insgeheim sind die Zuschauer erfreut. Niemand hat sein Geld auf mich gesetzt, auf das blasse, schmale Ding, das nichts vorzuweisen hat außer seinem Mut. Wieder schlägt Zwei-Meter-Zehn zu. Diesmal beuge ich mich seitlich weg. Zwei-Meter-Zehn setzt mir nach. Ich weiche so hastig zurück, dass ich aus dem Tritt gerate und mit dem Rücken gegen den Ring stoße, der hier aus einem hölzernen Geländer besteht. Spitze Splitter bohren sich in meine Haut. Dann werde ich von hinten gepackt, mehr und mehr Hände umklammern meine Schultern. Sofort fallen die Erinnerungen über mich her: vergilbte Fliesen, Lederhandschuhe, der scharfe Knall einer Peitsche. Die Menge schubst mich so heftig zurück in den Ring, dass ich fast das Gleichgewicht verliere. Zwei-Meter-Zehn lacht kurz auf, dann, als ich an ihm vorbeitaumele, verpasst er mir einen Klaps auf den Hintern.
Die Menge jubelt. Gedemütigt bleibe ich stehen. Ich hätte nicht herkommen sollen. Trotzdem fahre ich herum, um mich meinem Gegner zu stellen. Der nähert sich langsam, leckt sich mit der Zunge über die Lippen. Seine Hände sind nackt, genau wie meine. Ich spüre, wie sich mir die Kehle zuschnürt. Er kommt immer näher. Ich müsste nur die Hand ausstrecken.
Doch ich zögere. Ich darf dem dunklen Verlangen nicht nachgeben.
Es ist jetzt sechsundzwanzig Jahre her, dass die Berührung nackter Haut in Großbritannien für gesetzeswidrig erklärt wurde. Denn vor sechsundzwanzig Jahren hat man Menschen wie mich entdeckt, woraufhin unser König denNPA, denNational Protection Act, ratifiziert hat: Körperliche Berührungen sind nur noch verheirateten Paaren gestattet, und auch das nur zum Zwecke der Fortpflanzung. Aber selbst diese Angelegenheit wird mit so wenig Körperkontakt wie möglich erledigt. Alles wegen der Menschen, die so sind wie ich.
Zwei-Meter-Zehn stößt ein leises Knurren aus. Dann rennt er los, streckt die Arme aus, will mich am Hals packen. Der Anblick seiner nackten Finger ist faszinierend – etwas zu faszinierend. Er erwischt mich an der Schulter, schleudert mich einmal quer durch den Ring. Der Aufprall schürft mir die Haut auf, lähmender Schmerz schießt durch meinen Rücken. Wieder grölt die Menge begeistert. Und schon ist Zwei-Meter-Zehn über mir, tritt mich in den Bauch. Ich muss würgen. Der nächste Tritt drückt mir die Luft aus der Lunge. Der Mann trägt Stiefel mit schweren, scharfkantigen Sohlen. Hustend versuche ich, seinen Tritten auszuweichen. Wegzukriechen. Aber er ist schneller als ich.
Eine große Hand packt meine Haare, bis die schwarzen Strähnen zwischen den Fingern hervorquellen. Als er mich hochzieht, schreie ich laut auf, schreie immer weiter, während er mich durch den Ring schleift. Lachend feuern die Zuschauer ihn an. Für sie ist es das perfekte Spektakel, und Zwei-Meter-Zehn ist sich dessen bewusst. Als er mich auf die Füße stellt und anfängt, meinen Brustkorb mit Fäusten zu bearbeiten, wird mir kurz schwarz vor Augen. Da weiß ich, dass ich nicht länger warten darf.
Für das Publikum muss es so aussehen, als wäre ich einmal mehr gestolpert. Ich ducke mich kurz, sodass der nächste Schlag nicht auf meiner Brust, sondern am Unterkiefer landet.
Sobald seine nackte Haut auf meine trifft, spüre ich die Explosion in meinem Bewusstsein. Sein Geist breitet sich wie auf einer mächtigen Welle in mir aus, ich fühle seine erstaunliche Kraft, atme ihn, nehme ihn in mich auf wie das reine Leben. Und ich kann ihn sehen: sein gesamtes Bewusstsein, sämtliche Gedanken, die ihm durch den Kopf schießen. Er ist voll auf den Kampf konzentriert, plant den nächsten Angriff. Will mit der linken Hand meinen schmalen Hals packen und zudrücken, bis ich keine Luft mehr bekomme, ihn anflehe, bis mein Gesicht so blau wird wie meine Augen …
Aber beim Kämpfen geht es nicht um Kraft. Es geht darum, dem Gegner immer einen Schritt voraus zu sein.
Zwei-Meter-Zehn hat rechts seine Deckung vernachlässigt, was ich mir nun zunutze mache. Ich ramme ihm die Faust gegen den Kiefer. Das Publikum quittiert meinen Angriff mit Pfiffen. Der Hüne taumelt kurz, geht aber sofort wieder auf mich los. Ich lasse ihn ein Stück weit herankommen, dann springe ich vor und ziele auf seinen Solarplexus. Auch jetzt muss es so aussehen, als hätte ich ihn verfehlt, deshalb erwische ich nur sein Schlüsselbein, aber sobald ich ihn berühre, erkenne ich, dass er mein Bein anvisiert.
Mit einem Schritt weiche ich seitlich aus und trete ihm mit voller Kraft gegen die Kniescheibe, was ihn von den Füßen holt. Das laute Knacken begeistert die Menge.
Dafür bin ich hergekommen, habe mich als Mann verkleidet, riskiere mein Leben, breche einem anderen Menschen die Knochen: um ein fremdes Bewusstsein zu spüren. Ich umklammere den Hals meines Gegners, setze mich auf seinen Rücken und drücke sein Gesicht in den Staub. Zwei-Meter-Zehn wehrt sich heftig, schlägt um sich. Jetzt berühren wir uns richtig. Es ist berauschend. Wie ein sanftes Streicheln rinnt der Schweiß über meine Haut. Unerbittlic