PROLOG
Berlin, Februar 1958
All das würde sie nie wieder vergessen.
Die teils mandelgrünen, teils zinngrauen Dächer von Paris.
Den Silberglanz der nächtlichen Seine im Dezember, wenn die ersten Flocken fallen.
Einen Himmel, der sich bei Sonnenuntergang manchmal fast violett färbt.
Lautes Taubengurren vor Notre-Dame.
Das ungeduldige Klackern der Pumps auf dem Trottoir, weil Pariserinnen es immer eilig zu haben scheinen.
Fetzen von Akkordeonmusik im abendlichen Quartier Latin, die so schön melancholisch stimmen kann wie sonst nichts auf der Welt.
Hunger, der den Magen ganz eng werden lässt, und die Erlösung, die ein Stück ofenwarmes Baguette bringt.
Den Geschmack von schwarzem Tabak auf der Zunge, mit dem man sich so verdammt erwachsen fühlt.
Ihre Liebesnächte in der zugigen Mansarde, die ihnen zum Zuhause geworden war.
Aktzeichnen bei Monsieur Colbert, der sie präzises Hinsehen lehrt.
Aber ebenso wenig würde sie die bitteren Tränen vergessen und das Gefühl abgrundtiefer Verlorenheit, nachdem ihr Freund Pascal sich urplötzlich doch nicht mehr zum Künstler berufen fühlte und für einen sicheren Brotberuf zu seinen Eltern nach Lyon zurückkehrte. Es hatte sie enorme Kraft gekostet, sich aus diesem betäubenden Schmerzzustand zu befreien, doch eines bitterkalten Morgens war ihr plötzlich klar geworden: Ich muss zurück nach Berlin.
Und so steht sie nun, sechzehn Monate nach ihrer Flucht, frierend und mit leerem Magen wieder am Bahnhof Zoo: Florentine, jüngste der Thalheim-Schwestern, keinen Centime mehr im Portemonnaie, weil ihre allerletzte Barschaft für die Fahrkarte draufgegangen ist. Im Rucksack nur ein paar Klamotten, die nicht viel wiegen. Schwer machen ihn erst die Skizzenbücher, die sie in Paris bis zur letzten Seite vollgezeichnet hat, ebenso wie der schon reichlich zerfledderte BandMohn und Gedächtnis, den sie immer bei sich trägt, weil Celans Worte sich für sie beim Lesen in Farben verwandeln. Und dann gibt es ja auch noch ihren kostbarsten Besitz, die unhandliche graue Mappe mit ihren Bildern, die sie keinen Moment aus den Augen lässt, obwohl sie das Beste aus den letzten Monaten bereits als Wertpaket in die alte Heimat vorausgeschickt hat.
Dieser Schatz könnte sich vielleicht bald als hilfreich erweisen. Falls sie doch darauf zurückgreifen muss, um angenommen zu werden.
Vor Aufregung hat Flori im Zug nicht geschlafen und ist jetzt hundemüde. Und wohin nun?
Viel Kontakt zur Familie hatte sie nicht gerade in den letzten Monaten. Ein paar Briefe an Silvie, noch weniger Briefe anmaman, die der Vater bestimmt gleich hatte mitlesen wollen, weil er stets das Schlimmste befürchtete.
Trotzdem zu den Eltern in die noble Villa am Branitzer Platz, die sie sicherlich erleichtert wiederaufnehmen, nach der ersten Wiedersehensfreude aber garantiert mit Endloslitaneien von Ermahnungen und Vorschriften quälen würden?
Zur großen Schwester Rike in die Charlottenburger Giesebrechtstraße, wo diese mit ihrem italienischen Mann Sandro und den beiden gemeinsamen Kindern Anna und Matteo lebt? Auch von Rikes Seite müsste sie sich sicherlich auf so einiges gefasst machen …
Zu Silvie, mittlere der Thalheim-Töchter, die ihr früher stets die Stange gehalten hat, in Floris Augen allerdings seit