: Eva Stachniak
: Die Zarin der Nacht
: Insel Verlag
: 9783458733997
: 2
: CHF 12.00
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 492
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Katharina steht auf dem Gipfel ihrer Macht: Einst war sie als schüchterne Prinzessin nach St. Petersburg gekommen, nun hat sie ihren Ehemann, Zar Peter III., vom Thron gestürzt. Jahrelang hatte er sie gedemütigt und zurückgewiesen, nun krönt sie sich zur Alleinherrscherin über ein Weltreich. An ihrer Seite steht Grigori Orlow, ihr Geliebter, ebenso mutig wie sie, mit demselben Willen zur Macht. Doch Katharina ist nicht nur von Günstlingen umgeben, sondern auch von Neidern und falschen Freunden, ihre Herrschaft ist stets bedroht: Hinter jedem Vertrauten lauert ein Dolch, jedes Lächeln kann die Maske eines Verrats sein ... Eva Stachniak knüpft an ihren Bestsellererfolg »Der Winterpalast« an und erweckt den russischen Zarenhof mit Glanz und Gloria zum Leben. Sie entführt ihre Leser in die prunkvolle Welt St. Petersburgs, in schillernde Paläste und in die geheimen Gemächer der größten Kaiserin aller Zeiten.

<p>Eva Stachniak, geboren in Breslau, lebt in Toronto. Sie hat für Radio Canada International gearbeitet und als Dozentin für Englisch und Geisteswissenschaften am Sheridan College gelehrt. Ihre Romane<em>Der Winterpalast</em> und<em>Die Zarin der Nacht</em>waren internationale Bestseller. Zuletzt begeisterte ihr Roman<em>Die Schwester des Tänzers</em>ü er Bronislawa Nijinska ihre deutschen Leserinnen.</p>

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5. November 1796

9.15 Uhr

Ihr rechter Arm hängt schlaff herab, als gehörte er gar nicht zu ihr. Ein scharfer Schmerz schießt in ihren Kopf. Irgendetwas stimmt nicht.

Besborodko, der fähigste ihrer Minister, hat sie gewarnt: Zwei junge Franzosen sind ausgesandt worden, sie zu töten.»Sie haben schon die Grenzeüberschritten, Majestät«, hat er gesagt.»Sie geben sich als Opfer der Revolution aus, die ihren ganzen Besitz verloren haben. Sie warten nur auf eine günstige Gelegenheit, einen Ball, ein Maskenfest, eine Audienz. Der eine wird einen Dolch imÄrmel versteckt bei sich tragen, der andere eine Pistole.«

Sie hat darüber gelacht.»Wenn es wirklich so wäre, würden wir es dann erfahren? Glauben Sie, ich fürchte mich vor einem Attentäter, der nicht imstande ist, seinen Plan geheim zu halten?«

War das ein Fehler?

Die Franzosen sind Lügner. Sie sprechen von Freiheit und Brüderlichkeit, und dann lassen sie den Mob los. Im Namen der Gerechtigkeit schleppen sie ihren König und ihre Königin zum Schafott. Wie dieser Scharlatan Cagliostro behaupten sie, sie könnten Urin in Gold verwandeln. Sie vergessen, dass die Schranken der Furcht, einmal niedergerissen, nicht leicht wieder aufzurichten sind. Dass der Mensch, der allein seinen animalischen Instinkten folgt, nicht Handel oder Ackerbau treibt, sondern raubt und plündert.

Sie ist nicht leicht zu erschrecken, aber der Gedanke an rebellische Volksmassen erfüllt sie mit Grauen.

Männer, die Sensen zu Spießen umschmieden, Bäume zu Galgen machen, Taue zu Henkerstricken knüpfen. Frauen wie jene revolutionären Fischweiber, die lauthals verkündeten, sie würden am liebsten Marie Antoinettes Eingeweide in ihren Schürzen und ihren Kopf auf eine Pike aufgespießt durch die Stadt tragen.

Homo homini lupus. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.

 

9.16 Uhr

Absätze klacken im Vorzimmer. Jemand geht nervös auf und ab.

»Was hast du hier zu suchen?«, schreit Anjetschka jemanden an.»Verschwinde.«

Was hat sie denn? Wieso regt sich Anjetschka so auf?

Hundekrallen kratzen auf dem Parkett. Eine Schnauze schnüffelt an dem Spalt unter der Tür des Klosetts. Ein beunruhigtes, ungeduldiges Winseln. Pani? Riecht sie etwas, das eine menschliche Nase nicht wahrnehmen kann?

Ihre rechte Hand gehorcht ihrem Willen. Finger schließen sich. Wirklich wunderbar, wie das Zusammenspiel von Muskeln und Knochen funktioniert, denkt sie. Die zuckenden Schmerzen haben ihre Frequenz geändert, die Attacken folgen nicht mehr so dicht aufeinander. Dazwischen fühlt ihr Kopf sich zerbrechlich, brüchig an.

Ihre linke Hand fasst die Türklinke. Wenn sie alle Kraft zusammennimmt, wird sie sich mit einem kräftigen Ruck vom Sitz hochreißen können. Sobald die nächste Attacke vorbei ist.

Balletttänzerinnen, sagt sie sich, können sich allen Schmerzen zum Trotz anmutigüber die Bühne bewegen.

Jetzt, denkt sie.

Hoch.

Aber ihre Muskeln lassen sie im Stich. Sie rutscht ab, fällt auf den Boden wie eine Marionette, deren Fäden jemand abgeschnitten hat. Wie die Puppen, die Peter damals gebastelt und immer weiter perfektioniert hat, bis sie großartig stolz marschieren und sogar die Nase rümpfen konnten. Oder zu einem Haufen Holzglieder in sich zusammenfielen.

 

9.20 Uhr

Ich bin nicht tot, denkt sie.Ich bin nur gestürzt.

Sie wiederholt im Geist mehrmals jedes einzelne Wort. Es dauert lange, bis es zu ihr durchdringt.

Ich? Bin? Nur gestürzt?

Ihr Sichtfeld ist jetzt ganz eng. Sie sieht das Holz des Toilettensitzes, die feinen gewellten Linien der Maserung, abwechselnd heller und dunkler.

Undurchschaubar, aber schön.

Und auch die Adern in den Marmorfliesen ziehen sie an. Weiß, Braun, Grau, Rot – die Farben sickern aus winzigen Spalten und Poren des Steins. Dann ist da noch die Haut ihrer Hand mit ihren Altersflecken, den Gruben und hervortretenden Venen. Ihre Manschetten, so fein bestickt, dass sie einen einzelnen Silberfaden nur einen Moment lang sehen kann, bevor er in den Eichenblättern und Eicheln aufgeht. Wenn sie ihren Kopf ein kleines bisschen hebt, kann sie das Licht sehen, das durchs Fenster hereinflutet. Winzige Staubpartikel tanzen darin heitere Pirouetten und wilde Jagden.

Draußen vor der Tür fragt eine Männerstimme:»Haben Sie heute Morgen schon mit Ihrer Majestät gesprochen?«

Man sucht sie. Wischka, die immer alles weiß, versichert, dass die Kaiserin nicht weggegangen ist.

»Sehen Sie«, sagt sie,»ihr Umhang ist noch da. Sie würde doch bei dieser Kälte nicht ohne Pelz ausgehen.«

Ein Versteckspiel, denkt sie und muss beinahe lachen.

Die Heiterkeit, die in ihr aufsteigt, bringt eine alte Erinnerung an Kinderfreuden mit herauf: Sie liegt unter einem Bett und hält sich die Nase zu, damit sie nicht niesen muss, denn die Dienstmädchen kehren nicht unter den Betten, wenn es nicht sein muss. Jemand kommt ins Zimmer. Das ist sicher Babette, die sie sucht, denkt sie, aber die Gouvernante trägt keine so teuren Satinkleider. Und da ist noch jemand: Sie sieht ein Paar Herr