Nur eine Ahnung
Nala hob ihren Bogen und spannte die Sehne, bis sie mit den Fingerkuppen ihren Wangenknochen berühren konnte. Durch zusammengekniffene Augen fixierte sie ihr Ziel.
»Du schießt dir noch die eigene Nase weg«, höhnte Dale neben ihr.
Sie war sechzehn Jahre alt, er gerade mal zwei Jahre älter. Dennoch behandelte er sie nur zu gerne wie ein Kind.
»Von wegen«, entgegnete sie hoch konzentriert.
Nala ließ die Sehne schnellen und der Pfeil traf die Strohpuppe zielgenau mitten in die Brust.
»Ha!«, stieß sie stolz aus. »Siehst du? Habe ich es dir nicht gesagt? Ich treffe immer.«
Dale lachte herzlich.
»Bei zwanzig Metern kein Wunder.« Er deutete auf das Anwesen in ihrem Rücken. Es lag dort hinter einer halbhohen Mauer, auf dem sanft ansteigenden Hügel. Ein prunkvolles Herrenhaus mit geweißelten Wänden und freiliegenden, zinnoberrot lackierten Balken – ihr Zuhause. »Geh mal dreißig Meter zurück und versuch es dann noch einmal.«
»Geh du doch zurück«, entgegnete sie schnippisch. »Und lass mich in Ruhe.«
»Warum gleich so aufbrausend?« Noch immer grinsend hob er verteidigend die Hände und setzte eine wenig überzeugende Unschuldsmiene auf.
»Das weißt du sehr wohl!«, knurrte sie und hob erneut ihren Bogen.
Natürlich wusste er es und er wusste auch, dass es nichts mit ihm zu tun hatte. Auf ihren Vater war sie wütend, darauf, dass er wieder heiraten wollte und sie mit dieser Entscheidung so plötzlich überrumpelt hatte.
Sie war wütend darauf, dass er diese Erbschleicherin in ihr Zuhause gebracht hatte und Dale vorschickte, um seine Schwester zu überreden, zurück zum Anwesen zu kommen, wo sie ihre Stiefmutter kennenlernen sollte.
Nala blies sich eine ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht und zielte erneut auf die Strohpuppe. Weil sie genau gewusst hatte, dass es Dale sein würde, der sie holen sollte, hatte sie die Puppe nach seinem Abbild gestaltet, ihr eines seiner Hemden angezogen, ein schiefes Grinsen aufs Gesicht gemalt und einen Fetzen alten Bärenfelles auf den Kopf geklebt. Natürlich mimte Dale den besonnenen, älteren Bruder und ließ sich davon nicht ärgern.
»Lass mich mal, ich zeige dir wie das geht.« Er griff nach dem Bogen, doch Nala entzog sich ihm.
»Ich weiß auch so, dass du der bessere Schütze bist, das musst du mir nicht beweisen.«
Dale stemmte die Fäuste in die Seiten und grinste überlegen.
»Der beste der ganzen Baronie.«
Nala verdrehte die Augen. Sie hätte ihn nicht loben sollen, jetzt würde er tagelang von nichts anderem reden.
»Ja, ja, du wirst einmal der tollste Baron von allen und zu den königlichen Jagdgesellschaften geladen werden. Ich weiß schon.«
Auf gestelzte Weise verbeugte er sich tief vor ihr.
»O ja, so wird es sein, Schwesterherz.« Als er wieder aufsah, war sein Blick ernst geworden und nichts Scherzhaftes lag mehr in seiner Stimme. »Aber alle werden sie nur von dir reden. Der Baronesse von Dornwall. Die anmutigste Frau des ganzen Königreiches.«
Nala blieben die Worte im Halse stecken. Sie war gewiss nicht außergewöhnlich, ein graues Mäuschen, wenn man so wollte. Insbesondere neben Dale verblasste sie schnell. Er war groß, mit breiten Schultern und von sehnigem Körperbau. Sein dichtes, dunkles Haar hing ihm in wilden Strähnen vor den rehbraunen Augen. Augen, die tief und warmherzig waren und in denen sich schon so manche Magd verloren hatte.
Obwohl sie Geschwister waren und ihre Gesichtszüge die nahe Verwandtschaft auch verrieten, war sie klein, beinahe dürr, mit großen, aber blassen Augen und dünnem, blonden Haar, das nie länger wachsen wollte als knapp bis über ihre Schultern.
Ein solches Kompliment zu hören, und sei es auch maßlos übertrieben und zudem von ihrem Bruder, berührte sie peinlich. Gerade reimte sie sich eine Antwort zusammen, mit der sie dem entgegnen könnte, da grinste er wieder breit und frech.
»Aber weil du eine männerfressende Furie bist, werden dich alle nur von weitem bewundern wollen.«
Nala sog die Luft ein.
»Du!«, zischte sie durch zusammengebissene Zähne. »Na warte!«
Sie warf den Bogen beiseite und stürzte sich auf ihn. Überrumpelt, wie er war, stolperte er rückwärts und verlor das Gleichgewicht.
Lachend fielen sie beide ins hohe Gras, rauften sich wie zwei junge Hunde, pikten und kitzelten sich gegenseitig, bis Nala irgendwann um Gnade flehen musste.
»Bitte, bitte!«, jauchzte sie mit feuchtem Glanz in den Augen und vom vielen Lachen schmerzendem Zwerchfell.
Sie lag auf dem Rücken und wehrte sich mit Händen und Füßen gegen ihren Bruder, der sie in die Seite zu zwicken versuchte.
»Gibst du auf?«
»Niemals!« Sie versuchte ihn an den Haaren zu ziehen, bekam die Hände aber nicht frei.
»Sofort runter von