DUNKLE VERGANGENHEIT
Die Welt ist klein.
Aber sie wächst mit jedem Schritt,
den wir in eine andere Richtung machen.
Der Reisende
Raven war den ganzen Tag draußen gewesen. Joe hatte ihm kurz erklärt, was er alles zu tun hatte, und ihn dann allein gelassen. Raven hatte die Pferde auf die Weide gebracht, die Futtertröge aufgefüllt und die Tiere nach einigen Stunden wieder heimgeholt. Danach hatte er sich irgendwo hinter der Scheune in die Wiese gelegt und sich seitdem nicht mehr bewegt. Um ihn herum war weit und breit nichts, nur Stille, Sonne und ein sanfter Wind. Er hatte lange einfach nur den Himmel beobachtet und war zu dem Schluss gekommen, dass es spätestens am nächsten Tag regnen würde. Die Wolken waren erst am Nachmittag gekommen, hatten sich aber so schnell und so dicht zusammengezogen, dass es nicht mehr lang dauern durfte, bis sie den Regen nicht mehr halten konnten. Raven mochte Regen nicht. Ihm gefiel das Geräusch der platzenden Tropfen, ihm gefiel der Anblick der nebelhaften Regenschleier, ja, ihm gefiel sogar der schwere, feuchte Geruch der Luft kurz vor einem starken Schauer. Aber er hasste es ganz einfach, nass zu werden.
Zum Glück hatte er ein Haus, in dem er wohnen durfte. Ein Dach über dem Kopf und ein Bett, in dem er schlafen konnte. Alles, was er brauchte, um glücklich zu sein. Hoffentlich hatte er das auch noch, wenn es anfing zu regnen …
Als die Sonne unterging, stand er auf und schwankte kurz, als ihm für einen Moment schwarz vor Augen wurde. Er war es gewohnt, dass ihm regelmäßig der Kreislauf versagte, wenn er sich zu schnell aufrichtete. Es beunruhigte ihn nicht mehr. Kaum stand er jedoch, fiel ihm auf, wie sehr ihn die Erschöpfung schon wieder eingeholt hatte. Er fühlte sich, als hätte er den ganzen Tag schwerste körperliche Arbeit geleistet. Müde und schwach. Es war ihm einfach unbegreiflich, wie das möglich war, wo er doch den ganzen Nachmittag entspannt in der Sonne gelegen hatte.
Letztendlich zog ihn sein Bruder nicht ohne Grund ständig wegen seiner fehlenden Ausdauer auf. Er war noch nie sonderlich gut in Form gewesen. Aber er hatte das Gefühl, dass es in letzter Zeit schlimmer geworden war.
Nachdenklich machte er sich auf den Weg, erreichte irgendwann das Haus und schleppte sich schwerfällig die Treppe hoch. Er wollte sich einfach nur noch in sein Bett fallen lassen und jahrelang durchschlafen, aber an der Tür angekommen zögerte er, bevor er sie öffnete und eintrat.
Kyle lehnte im Türrahmen von Alicias Zimmer. Er hatte ihm den Rücken zugewandt, schien ihn nicht einmal zu bemerken.
„Ich weiß, ich weiß. Aber das alles hat sich gelohnt, weil ich dadurchdich kennengelernt habe“, säuselte er, und in Ravens Kopf entstand das Bild von Alicia, die an ihrem Schreibtisch lehnte und sich gespielt verlegen die Haare aus dem Gesicht strich.
„Ach, hör doch auf“, erwiderte sie, und am Klang ihrer Stimme konnte R