: Boris Bondarew
: Im Ministerium der Lügen Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands
: Heyne
: 9783641315337
: 1
: CHF 16.60
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: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein noch nie da gewesener Blick hinter die Kulissen der russischen Außenpolitik: Wie arbeitet das russische Außenministerium? Was sind das für Leute und wie denken sie, was veranlasst sie zu handeln? Wie entwickelte sich die russische Außenpolitik bis hin zum Ukrainekrieg, was trieb sie an und welche Mächte waren im Spiel?

Boris Bondarew war einer von sehr wenigen, die aus Protest gegen den Angriffskrieg auf die Ukraine den russischen Staatsdienst unter Teilnahme der Öffentlichkeit quittierten. Über zwanzig Jahre war er in verschiedenen Funktionen im russischen Außenministerium und im diplomatischen Dienst tätig und erlebte die Obrigkeitshörigkeit, Korruption und Inkompetenz in den russischen Behörden.

Er ist Russe und Demokrat, seit seiner Kündigung lebt er unter strengen Sicherheitsvorkehrungen im Exil, und er will zurück - in ein anderes Russland ohne Putin.

Mit einem klaren Blick auf die Gegenwart und scharfer Kritik an der grausamen russischen Aggressionspolitik liefert er hier auch seinen Beitrag zu dem, was jetzt wichtig wird: die richtigen Überlegungen anzustellen, bereit zu sein, Russland und vor allem die russische Bevölkerung auf dem Weg zurück zu einer demokratischen Ordnung zu unterstützen.

Boris Bondarew, geb. 1980, arbeitete 20 Jahre lang für das russische Außenministerium. Nach Stationen als Berater für die Nichtweiterverbreitung von Nuklearwaffen und in den Gesandtschaften in Kambodscha und der Mongolei war er seit 2019 einer der Gesandten der Russischen Föderation beim Büro der Vereinten Nationen in Genf. Am 23. Mai 2022 erklärte er, dass er von diesen Ämtern als Protest gegen die russische Invasion zurückgetreten sei. Diese Invasion sei ein Angriffskrieg. Der Krieg sei nicht nur ein Verbrechen gegenüber den Menschen in der Ukraine, sondern auch ein Verbrechen gegen die russischen Bürger.

Vorbemerkung:


Der 24. Februar 2022 und die Folgen

Bomben über Kyjiw


Der 24. Februar 2022 hätte eigentlich ein ganz normaler Arbeitstag werden sollen. Tags zuvor hatte ganz Russland wie jedes Jahr seine Armee, die »Vaterlandsverteidiger« gefeiert. Als ich gegen sieben Uhr morgens aufwachte, griff ich wie gewohnt zuerst zum Mobiltelefon, um mich auf den neuesten Stand zu bringen. Die Newsfeeds hatten nur ein Thema: den Beginn von Putins »militärischer Sonderoperation«. Die russische Armee war in die Ukraine einmarschiert, Russland bombardierte Kyjiw, Charkiw, Mykolajiw, Odessa, Poltawa. Ich sah Fotos von Bombeneinschlägen, Videos von fliegenden Marschflugkörpern, endlose Staus am Stadtrand von Kyjiw. Eine Liedstrophe aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs kam mir in den Sinn: »Am 22. Juni, / Um vier Uhr in der Früh, / Da wurde Kyjiw bombardiert / Und wir wurden informiert: / Jetzt ist der da, der Krieg.« In diesem sowjetischen Gassenhauer geht es um den Angriff Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941. Damals war es Hitlers Luftwaffe, die »unser« Kyjiw, – unsere Leute, unser Land – bombardierte. Nun bombardierten wir es selbst. Der Aggressor war nicht irgendein fremdes Land, sondern mein eigenes. »Unsere Leute«, das waren jetzt russische Angreifer. An diesem 24. Februar 2022 wurde mir klar: Das russische Regime hatte endgültig seine Maske fallen gelassen – es war wahrhaft faschistisch geworden und knüpfte sein weiteres politisches Überleben an den militärischen Erfolg.

Zu sagen, dass ich schockiert war, wäre eine Untertreibung. Bis zuletzt war ich überzeugt gewesen, dass es keine Invasion geben würde, denn dafür fehlten die objektiven Voraussetzungen. Die Führung des Landes, so meine – offenbar naive – Einschätzung, musste sich doch bewusst sein, dass weder unsere Streitkräfte noch unser militärisch-industrieller Komplex für einen ernsthaften Konflikt mit dem Westen gerüstet waren. Für mich stand fest, dass der Westen einem Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht tatenlos zusehen, sondern der Ukraine beistehen würde. Ein Erfolg Putins wäre der Beweis, dass die westlichen Demokratien nicht in der Lage sind, jene zu unterstützen, die ihre Ansichten und Werte teilen, als da sind: die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Souveränität der Völker, ihre Freiheit, die eigenen Regierungsvertreter selbst zu wählen und sich nicht von einer äußeren Macht unterwerfen zu lassen.

Auch war mir klar, dass die Ukraine nicht mehr so schwach und gespalten dastand wie noch 2014. Die Streitkräfte des Landes waren keine schlecht ausgebildeten, unerfahrenen, zerlumpten Soldatenbürschchen mehr, sondern verfügten über moderne Waffensysteme. Außerdem wusste ich, dass Russland keine wirklichen Verbündeten hatte, die ihm helfen konnten, die Last des Krieges zu tragen. Die 2002 gegründete Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), einst der Stolz der russischen Diplomatie, war zwar tatsächlich so etwas wie unsere »Mini-NATO«, aber es stand außer Zweifel, dass sich – von Belarus vielleicht abgesehen – kein einziges ihrer Mitglieder in eine Konfrontation Russlands mit dem gesamten Westen hineinziehen lassen würde.

Vor dem 24. Februar hatte ich den Eindruck gehabt, dass die politischen Entscheidungsträger im Land eine ähnliche Ansicht wie ich vertraten. Die Bündelung von Truppen an der ukrainischen Grenze sowie die darauffolgenden Manöver erschienen mir als Teil eines großen politischen Spiels, das darauf abzielte, der Ukraine und ihren westlichen Partnern Zugeständnisse abzuringen. Der größte Schock – und die größte Enttäuschung – dieses Tages war somit die Erkenntnis, wie wenig die Führung Russlands über die aktuelle Situation informiert war und wie weit sie sich von der Realität entfernt hatte.

Es war klar, dass die Ukrainer den russischen Streitkräften nicht mit Brot und Salz begegnen würden. Niemand würde die Kolonnen russischer Panzer mit Blumen bewerfen – eher schon mit Molotowcocktails. Es war mir ein Rätsel, wie man es – fehlgeleitet von pseudohistorischen Chimären – fertigbringen konnte, die Beziehungen zwischen diesen beiden geschichtlich, sprachlich, kulturell und familiär aufs Engste verbundenen Völkern einfach zunichtezumachen. Erschrocken nahm ich zur Kenntnis, dass wir dabei waren, uns in einen blutigen Krieg zu verwickeln, ob