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DIE SPRACHE DER STÄDTE
Fabriklandschaft, Greater Manchester, Oktober 1977 (Jon Savage)
Tony Wilson: Ich denke, dass im französischen Situationismus der Fünfzigerjahre die Psychogeografie und die Stadt als Konzept im Zentrum standen, und genauso gehörte auch die im Niedergang begriffene Stadt zum Leben von Joy Division: Das waren Jungs aus Macclesfield und Salford, und dann war da noch die Stadt – Manchester. Sie zieht sich thematisch durch das Ganze hindurch, Manchester als die archetypische moderne Stadt.
C.P. Lee: Früher hat man gesagt: »Was man heute in Manchester denkt, wird morgen in London gemacht.« Im neunzehnten Jahrhundert war das ja wirklich ein unglaublich innovativer Ort. In Salford, das nicht zu Manchester gehört, aber direkt daneben liegt, gab es die erste Straßenbeleuchtung, die ersten Straßenbahnen. All das kam aus Manchester: der soziale Wohnungsbau, die erste öffentliche Leihbibliothek – viele großartige Innovationen, die wir für Erfindungen des zwanzigsten Jahrhunderts halten, sind dort im neunzehnten Jahrhundert entstanden.
Aber gleichzeitig birgt das alles auch ein Spannungsverhältnis. Ein Spannungsverhältnis, das um den Pöbel herum entsteht, die Arbeiterklasse. Sie tritt als Meute auf. Einige führende Persönlichkeiten in Manchester wollten mit diesen Leuten arbeiten und vieles verbessern, die Stadt nach vorne bringen, aber es gab andere, die den Pöbel für sehr gefährlich hielten, wodurch Spannungen entstanden.
Ein Viertel wie Angel Meadows heißt so, weil die Toten so dicht unter der Erde lagen, dass ihre Knochen herausschauten, wenn es regnete hatte und die oberste Erdschicht weggespült worden war. Das waren Gegenden, die Polizisten grundsätzlich nur zu zweit betraten. In den Dreißigerjahren war mein Vater Polizist und musste dort mit einem Kollegen auf Streife gehen. Um drei Uhr morgens saßen die Leute noch draußen, und mein Vater fragte: »Wieso sitzen die da?« Der andere meinte: »Die bleiben so lange sitzen, bis sie vollgesoffen sind, damit sie trotz der Bettwanzen schlafen können.«
Man hatte also eine innovative, wohlhabende Stadt, was der Baumwollindustrie zu verdanken war. Manchester wurde ja auch Cottonopolis genannt, war entstanden mit Blick auf die Zukunft, durch Visionen von der Zukunft. Es gab fantastische Errungenschaften wie den Ship Canal. Dreißig Meilen weit entfernt liegt das Meer direkt vor Liverpool, aber Manchester hat nicht untätig zugesehen. Man hat sich gesagt: »Wir bringen das Meer in die Stadt«. Und hat den Ship Canal gebaut, einfach fantastisch.
In Salford gab es Hafenanlagen, weshalb es auch Barbary Coast genannt wurde. Dort lebten lauter dunkelhäutige Matrosen aus Indien, auch viele Italiener, Spanier und andere Menschen aus dem Mittelmeerraum, die mit Ohrringen und Halstüchern herumspaziert sind, das war fantastisch. Männer mit Affen auf den Schultern. Dank der Hafenanlagen kamen sie alle nach Manchester, und die Stadt wurde zu einem unglaublich opulenten Schmelztiegel der unterschiedlichsten Einflüsse und Stile. Gleichzeitig barg sie aber auch viele Schattenseiten für die Arbeiterklasse, die nicht unbedingt was vom Kuchen abbekommen hat.
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entwickelte sich eine riesige politische Bewegung, zunächst im englischen Nordwesten. Die Chartisten und die Befürworter des Freihandels wollten im Prinzip genau das, was wir jetzt haben, nämlich ein allgemeines, freies Wahlrecht. 1819 veranstalteten sie eine Massendemonstration auf dem St. Peter’s Field in Manchester. Und was macht man, wenn Leute das Wahlrecht fordern? Man schickt ihnen die Kavallerie auf den Hals. D