: Jan-Philipp Sendker
: Drachenspiele Roman
: Blessing
: 9783641027728
: Die China-Trilogie
: 1
: CHF 8.10
:
: Erzählende Literatur
: German
: 448
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein akribisch recherchierter China-Roman, der sowohl das Verständnis für die fremde Kultur mehrt als auch große Gefühle weckt
Paul hat gelernt, mit dem Tod seines Sohnes zu leben. Geholfen hat ihm dabei Christine, die seine ganze Hoffnung für die Zukunft ist. Sie hatten geplant, auf der kleinen Insel Lamma vor Hongkong zusammenzuleben, doch Christine will davon nun nichts mehr wissen. Ein Wahrsager hat ihr und dem Mann, den sie liebt, eine düstere Zukunft vorausgesagt. Wie viele Chinesen ist Christine nicht religiös, jedoch sehr abergläubisch, und die Prophezeiung verunsichert sie zutiefst. Paul ist verstört und enttäuscht - er glaubt nicht an Schicksal oder die Macht der Sterne.

Als Christine von ihrem während der Kulturrevolution verschollenen Bruder Da Long einen Brief erhält, in dem er dringend ihre Hilfe erbittet, fühlt sie ihre dunklen Vorahnungen bestätigt. Sie überwindet ihre Angst und macht sich zusammen mit Paul auf die Reise zu Da Long in ein Dorf nahe Schanghai, in dem Menschen und Tiere auf rätselhafte Weise erkranken und sterben.

Paul, der rationale Westler, will der Sache auf den Grund gehen - und kommt dabei einem von höchster Stelle gedeckten Verbrechen auf die Spur. Immer tiefer verstrickt er sich in ein Land, das er zu kennen glaubte und das ihm zunehmend fremder wird. Wie sehr er sich und die Menschen, die ihn um Hilfe baten, dabei in Gefahr bringt, bemerkt er zu spät. Die Prophezeiung scheint sich zu erfüllen. Pauls alte Gewissheiten gelten nicht mehr.

Jan-Philipp Sendker, geboren in Hamburg, war viele Jahre Amerika- und Asienkorrespondent desStern. Nach einem weiteren Amerika-Aufenthalt kehrte er nach Deutschland zurück. Er lebt mit seiner Familie in Potsdam. Bei Blessing erschien 2000 seine eindringliche PorträtsammlungRisse in der Großen Mauer. Nach dem Roman-BestsellerDas Herzenhören (2002) folgtenDas Flüstern der Schatten (2007),Drachenspiele (2009),Herzenstimmen (2012),Am anderen Ende der Nacht(2016),Das Geheimnis des alten Mönches(2017),Das Gedächtnis des Herzens(2019) undDie Rebellin und der Dieb(2021). Seine Romane sind in mehr als 35 Sprachen übersetzt. Mit weltweit über 3,5 Millionen verkauften Büchern ist er einer der aktuell erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren.

I
Du bist ein liebeshungriger Mensch.
Es war das erste Mal, dass er diesen Satz von einer Frau hörte. Liebeshungrig. Er wusste nicht, ob das eine Klage oder ein Kompliment sein sollte. Sind wir das nicht alle?, antwortete er, ohne darüber lange nachzudenken.
Sie lächelte. Manche mehr, manche weniger.
Und ich? Mehr oder weniger?
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Er nahm sie in den Arm. Diesen schmächtigen Körper, den er manchmal zu zerdrücken fürchtete. Der ihn aufregen konnte, ihn in langen, schlaflosen Nächten um den Verstand brachte wie zuvor kein anderer in seinem Leben. Er atmete tief ein und schloss die Augen.
Mehr. Mehrmehrmehr.
Liebeshungrig. Es hat Menschen in seinem Leben gegeben, die hätten ihn mit diesem Wort verletzen wollen. Und Zeiten, in denen ihnen das gelungen wäre. Er hätte die Behauptung als Affront empfunden und als eine geradezu absurde Unterstellung zurückgewiesen.
Heute nicht. Obgleich die Worte Hunger und Liebe in seinem Kopf nicht zusammenpassen wollten. Liebe klang für ihn, zumindest mit Christine im Arm, nach Reichtum, Glück, Erfüllung. Hunger hingegen war eine Not. Hunger musste gestillt werden, notfalls um jeden Preis. Hunger kannte nur sich, Liebe nur den anderen. Hungrige Menschen waren schwach, Liebende stark. Wenn Hunger und Liebe etwas verband, war es die Maßlosigkeit, die in beidem steckte.
Er fragte, wie es gemeint war. Ob er es als Beschwerde oder Schmeichelei verstehen dürfe.
Weder noch, antwortete sie. Nur als Feststellung.
Dabei beließen sie es. Zunächst.
Vielleicht, dachte er, hatte sie Recht. Vielleicht hatten die vergangenen drei Jahre tiefere Spuren hinterlassen, als ihm bewusst war. Drei Jahre, in denen er sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als allein zu sein. Drei Jahre, in denen ein Tag, an dem er mit keinem Menschen ein Wort gewechselt hatte, ein guter Tag gewesen war. Eine Zeit, in der seine Welt auf die Größe eines Hauses und einer kleinen, autofreien, kaum bewohnten Insel im Südchinesischen Meer geschrumpft war. Vielleicht war ein Mensch, der sich so zurückziehen musste, der in der Vergangenheit und von Erinnerungen lebte, der nichts und niemanden auf der Welt mehr liebte als einen Toten, vielleicht war so ein Mensch in größerer Not, als Paul es wahrhaben wollte.
Liebeshungrig. Hungrig nach Liebe. Es war die Bedürftigkeit, die in dem Wort mitklang, die ihm nicht gefiel, ohne dass er genau hätte sagen können, warum. Bedürftig sind wir alle, wollte er laut einwenden, und ahnte Christines Antwort. Manche mehr, andere weniger.
Und ich?
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Er sagte nichts und küsste sie auf die Stirn. Er fuhr mit seinen langen Fingern ihren Nacken entlang und massierte mit sanften rhythmischen Bewegungen ihren Kopf. Sie schloss die Augen, und er strich ihr über das Gesicht und den Mund. Er spürte, wie seine Hände die Lust in ihr weckten, hörte, wie ihr Atem schneller wurde. Nicht viel, aber genug, um ihm zu zeigen, dass es dabei nicht bleiben würde. Er küsste sie auf den Hals, und sie flüsterte, sie wolle ihn lieben. Hier, auf der Terrasse. Jetzt.
Er hörte die Zika