: Judith Kuckart
: Der Bibliothekar Roman
: DuMont Buchverlag
: 9783832188009
: 1
: CHF 7.80
:
: Erzählende Literatur
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Geschichte einer besessenen Liebe bis zum Tod Hans-Ullrich Kolbe ist Bibliothekar jenseits der fünfzig. Jahrzehntelang hat er sich in seiner Bücherwelt vergraben, er riecht schon »aus dem Mund nach Büchern«. Nun will er sein Leben ändern, zieht durch Nachtclubs und stößt auf Jelena, die so alt ist wie seine Tochter. Die erdbeerblonde Stripteasetänzerin merkt, dass sich mit achtundzwanzig auch ihre Laufbahn bald dem Ende zuneigt. Die beiden finden einander - eine Amour fou aus Gegensätzen. Wie sie einander bis zur Obsession verfallen und doch auch zu zweit einsam bleiben, das schildert Judith Kuckart mit seltener Intensität und Wahrhaftigkeit: das Kunststück einer unmöglichen Liebe.

Judith Kuckart, geboren 1959, lebt als Autorin und Regisseurin in Berlin. Sie veröffentlichte bei DuMont den Roman>Lenas Liebe< (2002), die Neuausgabe ihres Romans>Der Bibliothekar< (2004) sowie die Romane>Kaiserstraße< (2006),>Die Verdächtige< (2008),>Wünsche< (2013),>Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück< (2015),>Kein Sturm, nur Wetter< (2019) und>Café der Unsichtbaren< (2021). Judith Kuckart wurde mit zahlreichen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet.

 

Hans-Ullrich Kolbe klappte das Buch zu, nahm seinen hellen Mantel über den Arm und schob einen Stadtplan in die Jackettasche. Es war Sonnabend, spät und Ende April. Er zog die Vorhänge in seiner Mansarde zu. Auf dem Küchentisch unter der Leselampe lagen zwei Riegel Kinderschokolade gekreuzt übereinander, und das leere Weinglas trug am Rand die milchige Spur seiner Lippen. Daneben lag das Buch.

Ein gewisser Alain Bernardin hatte vor dreißig Jahren im 8. Arrondissement von Paris das CRAZY HORSE gegründet. Zwei Wächter im Polizeikostüm sicherten den Eingang des Nachtclubs und die bürgerliche Atmosphäre. Alain Bernardin war magisch angezogen von schönen Frauen, und nur eine nackte Frau, wie gezeichnet im komplizierten Spiel des Lichts, war für ihn schön. Hob sich der Vorhang, so stand im 1. Kapitel, zeigten Frauen mit großer Lust am Zeigen ihre perfekten Körper. Tänzerinnen verschoben die Grenze zur Nacktheit so delikat, daß die Gesichter der Zuschauer sich glücklich öffneten, nicht schmal wurden vor Gier. Man sah, was man nicht sah. Die Szenen der Show wechselten alle fünf Jahre, die eine so überraschend und raffiniert ausgearbeitet wie die folgende. Alain Bernardin war ein Zauberer. Er befreite die männlichen und die weiblichen Phantasien gleichermaßen. Das hatte Hans-Ullrich Kolbe gelesen. Manche Seite hatte er dreimal gelesen.

Mehrmals war er mit der Hand über den glänzenden Einband gefahren, wie eine Frau über Seidendessous streicht, und dabei die Adern und feinen Runzeln auf ihrer Hand sieht. Paris 47 23 32 32 hatte er gewählt. Die S-Bahn war zweihundert Meter von ihm entfernt vorbeigerattert. Eine Frauenstimme hatte auf Englisch Konditionen genannt. 450 Francs Eintritt, eine halbe Flasche Champagner pro Person, zwei Shows am Abend, eine um 20.30 Uhr, die zweite um 23 Uhr, samstags drei.

Heute also drei. Hans-Ullrich hatte tatsächlich auf die Uhr geschaut an seinem offenen Fenster in Friedenau. Mit einem Flugzeug könnte er es zur Late Show um 0.50 Uhr noch schaffen. Er hatte aufgelegt.

Vom Lesen ganz verrückt vergaß er, was er sehr wohl wußte. Berlin war nicht Paris. Trotzdem. Er hatte seine Armbanduhr angelegt.

Den Mantel über den Arm verließ er das Haus. Er war Bibliothekar.

»Herr, zeige mir Deine Wege und lehre mich Deine Steige«, erinnerte er auf der U-Bahn-Station Dahlem Dorf einen Psalm. Er tippte Nummer 25, ja, Psalm 25. Er legte den Mantel über die Schultern und warf den rosa Handzettel in den Papierkorb. »LA FEMME, für den anspruchsvollen Gast.« Das weibliche Personal in dem Club war ihm vertraut gewesen wie Studentinnen oder Kolleginnen, auch in der Verkleidung als Eisbecher. Eine Rote hatte die Arme zu Tina Turner gehoben und angetanzt gegen die Müdigkeit. Der Scheinwerfer hatte die rasierten Achseln nach Schweiß abgesucht. Hans-Ullrich hatte mit dem Rücken zur nackten Tänzerin noch einen Kaffee getrunken, war in seinen frischgeputzten Schuhen immer wieder vom Chromstreben des Barhockers gerutscht und auch deshalb schon bald gegangen.

Die U-Bahn fuhr ein. Er saß allein im Waggon und lutschte ein Pfefferminzbonbon. Er stieg um, setzte sich neben eine junge Mutter. Dem Kind auf ihrem Knie brannten vor Müdigkeit die Ohren rot. Geduldig gab er ihm mehrmal