: Karin Fossum
: Die Stille bringt den Tod Kriminalroman
: Piper Verlag
: 9783492994392
: 1
: CHF 8.00
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Kann tatsächlich jeder Mensch zum Mörder werden? Diese Frage stellt sich Kommissar Konrad Sejer, als er Ragna Riegel im Verhör gegenübersitzt. Ihm scheint es unmöglich, dass diese zurückhaltende, stille Frau ein brutales Verbrechen begangen haben könnte. Seit sie wegen einer fatalen Operation an den Stimmbändern nur mehr flüstern kann, führt sie ein bescheidenes und einsames Leben. Und trotzdem gibt es keine Zweifel an ihrer Schuld. Im Laufe der Vernehmung versucht Sejer, Licht in das Dunkel zu bringen, das die flüsternde Frau umgibt ...

Karin Fossum, geboren 1954 in Sandefjord/Norwegen, lebt in Sylling bei Oslo. Ihre international erfolgreichen Romane um Kommissar Konrad Sejer sind vielfach preisgekrönt und wurden fürs Kino und Fernsehen verfilmt. In Deutschland erschienen von ihr unter anderem 'Stumme Schreie', ausgezeichnet mit dem Los Angeles Times Book Award 2008, 'Dunkler Schlaf', 'Schwarze Sekunden', von der Schwedischen Akademie mit dem Preis des besten ausländischen Kriminalromans ausgezeichnet, und zuletzt 'Wer anders liebt' und 'Böser Wille'.

Schön war sie nicht, und darüber war sie sich natürlich im Klaren, sie bewegte sich, wie unansehnliche Frauen das meistens tun, mit vorsichtigen Schritten und einem Blick, der um Entschuldigung zu bitten schien. Ohne den Wunsch, Raum einzunehmen, oder die Hoffnung, Eindruck zu machen, dass man ihr glaubte oder sie überhaupt auf irgendeine Weise ernst nahm. Seit weit über vierzig Jahren hatte der Spiegel sich über ihre mangelnde Schönheit geäußert, und sie hatte den Kopf gesenkt und dieses Urteil zur Kenntnis genommen. Wenn der Wind einen Funken mit sich gebracht hätte, hätte sie vermutlich Feuer gefangen, ihre Haare waren strohtrocken, und sie war bleich wie Papier. Sie trug einen Nylonkittel mit großen tiefen Taschen, die rein gar nichts enthielten, sie waren längst durchsucht und entleert worden. Auf die Brusttasche, dort, wo sich ihr Herz befand, war ein rot-grünes Logo gestickt, das Wort »Europris« in großen Buchstaben. Quer über ihren weißen Hals zog sich eine hässliche und unsauber verheilte Narbe. Sie war untergewichtig und vielleicht anämisch, rothaarig und sommersprossig. Aber trotz ihrer Farblosigkeit floss natürlich Blut durch ihre Adern, vor allem in diesem Augenblick, als sie hier vor ihm stand und ihre Aussage machen sollte. Die Hände tief in den sorgfältig durchsuchten Kitteltaschen vergraben. Sie wartete auf die Erlaubnis, sich zu setzen, war nicht dreist genug, eigenmächtig zu handeln. Sejer hatte im Laufe der Jahre schon viele Menschen vernommen, aber noch niemanden wie sie.

Sie zog vorsichtig den Stuhl zu sich heran, er durfte nicht über den Boden scharren, das hätte doch jemand hören und sich gestört fühlen können. Sie hatte noch nie mit den Anklagebehörden zu tun gehabt, um nichts in der Welt wollte sie ihn irritieren, provozieren oder seinen Zorn erregen. Erst jetzt entdeckte sie Sejers Hund hinten in der Ecke, der Hund erhob sich und kam auf sie zugetrottet. Der Hund Frank Robert, ein kleiner fetter Shar-Pei, war mit seinen vielen Falten und Runzeln ein bezauberndes Geschöpf, er schien einen viel zu großen Kittel zu tragen, genau wie sie selbst. Der Hund stellte sich auf die Hinterbeine und legte ihr seinen schweren Kopf auf den Schoß. Seine in den Falten kaum sichtbaren Augen rührten sie und ließen sie den Ernst der Lage vergessen. In ihrem Blick lag eine Andeutung von Freude, ein kleines Leuchten. Auch ihre Augen waren farblos, die Iris war hell und wässrig, die Brauen kaum zu sehen und dünn wie Marderhaare. Sie hatte nicht mit einem Hund gerechnet. Vor allem nicht mit einem, der auf diese Weise auf sie zukam, zutraulich und ohne Vorbehalte. Sie war nicht daran gewöhnt, Begeisterung zu erwecken, nicht bei Volk und nicht bei Vieh. Als alter Bettler, der er war, blieb Frank auf den Hinterbeinen stehen und sabberte auf den grünen Europris-Kittel. Als sie aufhörte, ihn zu streicheln, legte er ihr die Pfote aufs Knie und hoffte auf mehr.

»Frank«, sagte Sejer, »leg dich hin.«

Der Hund trottete zurück an seinen Platz. Er hatte eine Decke, die er mit den Pfoten zu einer Art Nest zusammengeschoben hatte. Die vielen überzähligen Kilos machten ihn langsam, und jedes Kommando des Leittieres musste sorgfältig übersetzt und bewertet werden, bis es befolgt wurde, deshalb dauerte es. Außerdem war er ein