Fremde Leben
–––
In der großen Stadt bekümmert sich niemand um den anderen; es wissen die Leute oft in derselben Etage nicht, wer ihr Nachbar ist, und es kann jene Anekdote leicht wahr sein, wonach ein Mietsmann die Frage eines fremden Beobachters dahin beantwortete: einen Herrn namens Fischer kenne er nicht, neben ihm wohne aber seit zehn Jahren ein Mann, der vielleicht so heißen möge.
Ernst Dronke
Als ich noch in Berlin lebte, bin ich gern abends durch die Straßen spaziert und habe in die erleuchteten Fenster gesehen. Nicht die Neugier leitete meinen Blick, sondern mich reizte die Vorstellung, dass für die Menschen in diesen Wohnungen ihr eigenes Leben ganz selbstverständlich ist und meines fremd, und dass umgekehrt jeder Alltagsgegenstand in deren Leben für mich neu wäre, ihr Geschirr, ihre Möbel, ihre Musik. Auch heute noch gehe ich gern nach Sonnenuntergang durch die Stadt. Bei Dunkelheit in ein erleuchtetes Zimmer zu sehen und darin Bücherregale zu erblicken, einen weißen Lampenschirm, blauen Lichtschein vom Fernseher, ein Bild an der Wand – es weckt in mir den Wunsch, das Leben dieser Anderen zu streifen. Ich frage mich: Sind sie glücklich? Was ist ihnen wichtig? Diese Berührung mit fremden Leben übt eine eigenartige Anziehungskraft auf mich aus. Sie bringt mich dazu, über mein eigenes Leben nachzudenken, und über das Leben an sich. Parallel zueinander finden nicht nur in meiner Gegend, sondern auf der ganzen Welt ungezählte Versuche statt, etwas Gutes aus den uns geschenkten achtzig, neunzig Jahren zu machen. Die Herangehensweisen unterscheiden sich so sehr wie die Menschen.
Weil ich für mein eigenes Leben auf der Suche nach einem guten Blickwinkel und guten Wegen bin, fühle und denke ich mich in andere Leben hinein, wenn ich Romane schreibe genauso wie beim Spazierengehen.
Hier auf dem Land verraten schon die Vorgärten viel über die Hausbewohner. Es gibt adrette Beete, gepflegt wie für ein Garten-Fotoshooting. Beim nächsten Haus ist Sperrmüll an die Wand gelehnt, und eine mannsgroße Satellitenschüssel ist zum Himmel ausgerichtet, von dort erhoffen sich die Bewohner Erlösung oder zumindest Ablenkung, vielleicht fehlt ihnen die Kraft, ihre Umgebung aufzuräumen und zu verschönern – oder es ist ihnen nicht wichtig.
Daneben ein Garten mit verspielten Glasfiguren zwischen den Pflanzen. Auf dem nächsten Grundstück ein wildes Utopia, ein Dschungel für Insekten und Kleintiere.
Und bei uns? Was sehen Spaziergänger da? Auf der Wiese vor unserem Haus liegt Spielzeug herum. Die Brombeersträucher wuchern, und die Lampe neben der Eingangstür habe ich etwas schief angeschraubt, versehentlich. Aber durch die gardinenfreien Fenster im ersten Stock sieht man im Lichtschein am Abend meine Bücherregale, und ich hoffe, Vorbeikommende freuen sich daran und erahnen ein wohnliches, herzwarmes Leben.
Es gibt auf dem Land und in der Stadt eine unterschiedliche Laufgeschwindigkeit. Ich passe mich an. Bin ich zu Besuch in meiner alten Heimat Berlin, fällt mir jedes Mal der Unterschied auf.
Seit Jahrzehnten wird über die Laufgeschwindigkeit geforscht. Den Anfang machten1976 die Psychologen Marc und Helen Bornstein. Sie wollten den Zusammenhang zwischen der Einwohnerzahl von Orten und dem Verhalten ihre