: Katharina Peters
: Todesküste Ein Ostsee-Krimi
: Aufbau Verlag
: 9783841232298
: Emma Klar ermittelt
: 1
: CHF 7.90
:
: Spannung
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Ein geheimes Netzwerk an der Ostsee.

Emma Klar, verdeckte Ermittlerin in Wismar, hat sich länger mit einem geheimen Netzwerk beschäftigt, zu dem auch Paul Reiter gehört. Als dessen Leiche in einem Waldstück gefunden wird, glaubt Emma, einen neuen Ansatzpunkt zu haben. Die Todesursache ist allerdings nicht eindeutig - Reiter könnte auch Suizid begangen haben. Bald wird jedoch eine zweite Leiche gefunden. Am Strand von Graal-Müritz ist ein Mann offenbar erfroren. Auch dieser Tote ist der Polizei nicht unbekannt, sondern stand im Verdacht, ein junges Mädchen erst missbraucht, dann ermordet zu haben ...

Emma Klar und zwei rätselhafte Morde. Von der Autorin der Bestseller »Inselmord« und »Todesbrandung«.



Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt in Schleswig-Holstein - wenn sie sich nicht gerade zu Recherchearbeiten an der Ostsee und auf Rügen aufhält. Zuletzt erschienen von ihr in der Serie um Emma Klar: »Todeswall«, »Todeswelle« und »Todesbrandung«.

Prolog


Marvin hatte seine Polizeilaufbahn im Dezernat für Betrug und Geldwäsche begonnen, später war er in die Abteilung Gewaltkriminalität und Zielfahndung desLKA Schwerin gewechselt. Nach einer schweren Schulterverletzung hatte er sich in die interne Recherche und Vernehmung versetzen lassen. Er galt als engagierter und umsichtiger Kollege – ein Kriminalbeamter, der davon überzeugt war, einen wichtigen Job zu erledigen und auf der richtigen Seite zu stehen. Er zweifelte nicht an der klaren Trennlinie zwischen Gut und Böse, zarte Grautöne inklusive – nun, anfangs zumindest. Allerdings war er schon als Anfänger der Meinung, dass jemand, der irgendwann einmal im Leben falsch abgebogen und aufgrund widriger Umstände zum Straftäter geworden war, anders einzuschätzen war als zum Beispiel ein Crackdealer, der sein Zeug an Schulen vertickte und junge Menschen in die Sucht trieb. Diese Typen waren in Marvins Augen nicht das Papier wert, mit dem ihre Akte gefüllt wurde. Das Gleiche galt für Straftäter, die Frauen und Kinder verprügelten, sowie für Vergewaltiger und Schläger aus sämtlichen Milieus. Dass sie womöglich ebenfalls irgendwann einmal aus gewichtigen Gründen falsch abgebogen und auf die schiefe Bahn geraten sein könnten, wog in diesen Fällen weniger schwer – zumindest nach Marvins Ansicht. Die Fürsorgepflicht des Staates sollte sich gefälligst auf die Opfer konzentrieren – und das waren die, die sich nicht hatten wehren können.

Marvin stand nicht allein mit dieser Meinung – es herrschte eine stillschweigende Übereinkunft mit einigen ähnlich denkenden Kollegen. Und natürlich war ihm klar, dass ihn seine eigene Familiengeschichte zu einem gebrannten Kind gemacht hatte – was im Übrigen kaum jemand wusste. Marvin war zwölf Jahre alt gewesen, als seine fünfzehnjährige Schwester an den Folgen einer brutalen Vergewaltigung gestorben war. Das Drama hatte seine Familie zerstört. Es gab ein Vorher und das nicht enden wollende Nachher mit all seinen tiefdunklen Facetten. Der Täter war nicht gefasst worden, und die Schatten der Vergangenheit hatten sich zu keinem Zeitpunkt aufgelöst. Einige Jahre später hatte Marvin beschlossen, Polizist zu werden, und anfänglich hatte er der romantischen Vorstellung nachgehangen, den Täter von damals beim Recherchieren in alten Akten ausfindig machen und für späte Gerechtigkeit sorgen zu können – wie in einem dieser Cold-Case-Filme, die die erfolgreiche Spürarbeit eines unbeirrbaren und phantasievollen Ermittlers zeigten, der sich von keinem Rückschlag aus der Bahn werfen ließ. Er hatte sich vorgestellt, wie seine Eltern reagieren würden, wenn der Täter festgenommen wurde und sich vor Gericht verantworten musste. Sie könnten endlich einen Schlussstrich unter altes Leid ziehen, grausame Erinnerungen würden anfangen, zu verblassen, und die Restfamilie wieder zusammenfinden – weil der Täter seine gerechte Strafe bekam. Im schnöden Polizeialltag wurde Marvin allerdings zunehmend bewusster, dass ein gefasster und verurteilter Krimineller nicht automatisch die Qualen von Opfern und Hinterbliebenen milderte. Hinzu kam, dass manche Täter selbst bei offensichtlichster Schuld nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten – weil beispielsweise die Beweislage nicht ausreichte, weil Fristen abgelaufen waren oder Anwälte erfolgreich alle Register gezogen hatten.

Der Kummer, den seine Eltern durchlitten, war nicht heilbar. Auch das hatte er eines Tages begriffen. Er schmerzte anders als der Kummer, den Marvin aushalten musste. Seine Eltern hatten auf schreckliche Weise ein Kind verloren. Es gab kaum Schlimmeres – oder vielleicht doch: Es war qualvoll, mitansehen zu müssen, wie ein Beschuldigter trotz erdrückender Beweise das Gericht als freier Mann verließ, obwohl niemand an seiner Täterschaft zweifelte, auch nicht das Gericht. Marvin hatte als Polizist etliche solcher Fälle erlebt. Sie nährten zunehmend stärker den Verdacht in ihm, dass die Rechtsprechung allein keineswegs durchgängig das geeignete Instrument darstellte, um Recht zu sprechen und Schuld auszugleichen. »Vor Gericht bekommt man kein Recht, sondern ein Urteil.« So lautete ein gern zitierter Spruch eines Staatsanwaltes. Zugleich registrierte er, wie die Umrisse von Gut und Böse unschärfer wurden und in der juristischen Auseinandersetzung im Abwägen und Kungeln um Paragraphen und Zuständigkeiten, Vorteilsnahmen, Fristauslegungen und Karriereplänen von Behördenleitern verschwammen. Wer schlauer war, die richtigen Kontakte pflegte, sich nicht scheute, Ellenbogen sowie finanzielle Mittel einzusetzen und Vorteile schnell zu nutzen, ohne sich um Gewissensfragen zu scheren, hatte die Nase vorn – unabhängig davon, auf welcher Seite er sich befand: Kläger oder Beklagter. Und wer von all dem nichts verstand, sondern sich vertrauensselig darauf verließ, dass die Rechtsprechung die richtige – gerechte – Entscheidung treffen würde, hatte womöglich verloren, bevor ein Verfahren eröffnet wurde. Das klang bitter, vielleicht resignativ, vielleicht zynisch und einseitig – oder auch einfach nur pragmatisch. Aus dem jungen Polizisten Marvin, der viele Jahre zuvor davon geträumt hatte, den Entführer, Vergewaltiger und Mörder seiner Schwester zu fassen und hinter Gitter zu bringen, um seinen Eltern ein Stück Erleichterung zu ermöglichen, war ein Beamter geworden, der sich den Anforderungen seines Berufes mit realistisch geprägtem Augenmaß stellte und zugleich seine ganz eigenen Vorstellungen und Einsichten hegte. Er hatte seinen ursprünglich eingeschlagenen Weg klammheimlich verlassen – ohne etwas zu bereuen. Vielleicht war es auch ganz einfach: Gut und Böse war eine fein austarierte Waagschale, die man von verschiedenen Seiten betrachten konnte.

Der Typ, den einLKA-Team nach wochenlanger Fahndung in einer diesig kalten Nacht festsetzen konnte, hieß Klaus Griehm und war Anfang vierzig. Griehm galt als brutaler Schläger und Vergewaltiger, der für mehrere Bordell- und Clubbesitzer im Rotlichtmilieu tätig war und dennoch selten länger als ein paar Wochen in Haft gesessen hatte. Er stand unter dem dringenden Tatverdacht, zwei junge Mädchen entführt zu haben, und die Beamten hofften, ihn diesmal länger hinter Gitter bringen zu können.

Marvin studierte die Akte am nächsten Morgen, ließ sich von einem Kollegen die Umstände der Festnahme schildern und ging schließlich mit seinem Kaffeebecher in den Vernehmungsraum. Klaus Griehm war ein mittelgroßer bulliger Typ mit überraschend sanften Augen und sympathischen Gesichtszügen. Er sah ihm neugierig entgegen und nickte in Richtung des Kaffeebechers. »Ist für mich auch einer drin? Ich bin schon eine Weile hier und könnte ihn gut vertragen.«

»Das lässt sich machen«, erwiderte Marvin und bestellte einen Kaffee. »Ich bin übrigens Hauptkommissar Marvin Hartner und …«

Griehm winkte lässig ab. »Spielt keine Rolle. Mein Anwalt kommt gleich. Der soll sich Ihren Namen merken – falls nötig.«

Marvin nickte. »Wie Sie meinen.« Es war noch sehr früh am Morgen, und es würde eine Weile dauern, bis es soweit war, dachte er. Aber das wusste Griehm selbst.

»Und reden werde ich vorher auch nicht mit Ihnen.« Griehm lächelte dezent entschuldigend.

»Das müssen Sie natürlich nicht. Aber es geht nachher alles sehr viel schneller, wenn wir jetzt schon mal ein paar Daten und allgemeine Informationen austauschen«, meinte Marvin beiläufig. »Das verpflichtet Sie zu nichts.«

»Okay.« Griehm nickte höflich.

»Meine Kollegen haben Sie heute Nacht am Hafen vorläufig festgenommen …«

»Ja, das habe ich mitbekommen. Vorläufig klingt gut.« Griehm grinste und hob beide Hände. »Was habe ich mit diesen beiden Schlampen zu tun, die …«

Marvin senkte den Blick in die Akte. »Die beiden jungen Mädchen, um die es hier geht, heißen Michelle Beuth und Karoline Scheller«, erläuterte er in ruhigem Ton. »Sie sind fünfzehn Jahre alt und werden seit gut einer Woche vermisst.«

»Und?«

Marvin zeigte ihm Fotos der Mädchen.

»Noch nie gesehen und …«

»Sie sind von einer Überwachungskamera erfasst worden«, warf Marvin ein und zog ein weiteres Foto aus der Akte. Es zeigte Griehm an einer Tankstelle. Im Fahrzeug waren zwei Gesichter zu erkennen. »Das war vor wenigen Tagen. Seitdem suchen wir sie.«

Griehm zuckte mit den Achseln. »Da Sie offenbar denken, ich...