: Sheng Keyi
: Die Gebärmutter Roman
: DuMont Buchverlag
: 9783832160739
: 1
: CHF 17.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 432
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Sheng Keyi ist eine Geschichtenerzählerin, die bereit ist, Tabus zu brechen.« THE NEW YORK TIMES>Die Gebärmutter< erzählt das Schicksal der Frauen einer Familie, die während des 20. und 21. Jahrhunderts in einem Dorf in der chinesischen Provinz Hunan aufwachsen. Großmutter Qi ist in der Qing-Dynastie groß geworden. Als Mädchen hat man ihr die Füße gebunden, nun kann sie sich nur trippelnd fortbewegen. Schon in jungen Jahren verliert sie ihren Ehemann, unterdrückt fortan all ihre eigenen Bedürfnisse und wird darüber zu einer harten, kalten Frau. Ihre Tochter Wu Aixiang wird ebenfalls jung Witwe und kümmert sich allein um ihren Sohn und die fünf Töchter. Zu ihrem schweren, entbehrungsreichen Leben treten gesundheitliche Probleme, deren Ursache eine nach der Geburt ihrer letzten Tochter zwangsweise eingesetzte Spirale ist. Und auch das Leben von Wu Aixiangs Töchtern wird durch die Familienpolitik der Regierung und die Frage der Fortpflanzung bestimmt. Als die Tochter des einzigen Sohnes von Wu Aixiang - die vierte Generation der Familie - ungeplant schwanger wird, diskutiert ein Familienrat, ob sie das Kind bekommen soll. Sheng Keyi schildert Gesellschaftskonflikte, ausgetragen am Körper der Frau, und erzählt vom Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung.

SHENG KEYI wurde 1973 in der Provinz Hunan geboren und zog in den Neunzigerjahren nach Peking. Seit 2003 hat sie ein umfangreiches, auch international anerkanntes erzählerisches Werk geschaffen, das wie der Roman>Die Gebärmutter< von einem kritischen Blick auf die chinesische Gesellschaft geprägt ist. Einige ihrer Bücher sind in China verboten.

KAPITEL 1

Zwischen dem Mädchen und Meister Yan stand eine weiße, mit klarem Wasser gefüllte Porzellanschale. Im Wasser lagen ein Messer, eine Schere und eine Zange. In die Schale fielen Sonnenstrahlen, durch die das Wasser noch sauberer und das Metall noch kälter wirkte, während das Licht in der Schale noch heller zu leuchten schien. Das Wasser und der schneidend kalte Glanz der Metallinstrumente wuschen das Gesicht von Meister Yan ab wie einen Felsen. Er hob ein weißes Tuch in die Luft und schüttelte es aus, worauf es sich ausbreitete und seine Arbeitshose bedeckte. Die Sohlen seiner schwarzen, sehr hochwertig aussehenden Stoffschuhe waren weiß wie Hammelfettjade und erinnerten an zwei Anführungszeichen. Seinen stolzen, distanzierten Gesichtsausdruck hatte er sich ursprünglich angewöhnt, damit er zu diesen Sohlen passte. Mit zusammengepressten Lippen griff er nach dem Hahn, drückte kurz den vorhandenen Kot aus dessen Darm, band die Füße mit einem Seil zusammen und rupfte ihm dann die Federn an einer Stelle des Bauches aus. Nachdem er mit der Klinge seines Messers einen blutigen Schnitt hineingemacht hatte, befestigte er dort an beiden Seiten zwei Haken, die mit einem dünnen Bambusbügel verbunden waren, sodass eine Öffnung entstand. In diese Öffnung führte er einen kleinen Stahllöffel mit einem dünnen Draht an der Unterseite ein und schöpfte damit zwei fleischfarbene Kidneybohnen heraus, die er in die Wasserschüssel gab. Dies alles geschah mit so geschmeidigen Bewegungen, als würde er kalligrafische Schriftzeichen schreiben.

»Warum müssen Hähne kastriert werden?«, fragte das Mädchen. Es hieß Chu Yu und war die jüngste Tochter der Familie Chu. Sie hatte klar konturierte Gesichtszüge, die wie gemeißelt wirkten.

»Nach der Kastration denken sie nicht mehr an die Hühner, sondern haben nur noch eins im Kopf: Fleisch anzusetzen.« Meister Yan ordnete konzentriert seine Metallinstrumente, wusch sie und wickelte sie in ein Taschentuch ein. »Ganz zartes Fleisch wird er ansetzen, als Mahlzeit für euch.«

»Aber wenn der Hahn das selbst gar nicht will?«

»Wenn du zu Hause ein Huhn tötest, um es zu essen, würdest du das Huhn dann erst um Erlaubnis fragen?«

»Nein«, antwortete das Mädchen ehrlich.

Die frisch kastrierten Hähne, es waren mehrere Dutzend, hatten sich noch nicht von ihrem Schock erholt. Mit emporgereckten Hälsen und weit aufgerissenen Augen gackerten sie in leisem Protest, als wollten sie das Mädchen davor warnen, dem schlechten Menschen nicht zu nahezukommen.

»Geh und frag mal deine Mutter, ob sie die Hoden behalten will.« Seine Worte richtete Meister Yan an das Spiegelbild des Mädchens im Wasser, während er seine beiden Hände darin von den Blutflecken reinigte. Für jemanden, der auf dem Land lebte, waren sie ungewöhnlich weiß, mit zarten rosa Fingerspitzen. Er bewegte sie langsam und sanft, als würde er die Hände seiner Geliebten waschen. Jeden Finger rieb er mit liebevoller Zuneigung ab. Gewaschen sahen sie noch rosiger aus.

Chu Yun, die älteste Tochter, kam, um auftragsgemäß die Hahnhoden bei ihm abzuholen. Sofort fiel ihr Blick auf seine zehn rosa Finger, die sich im Wasser bewegten. Weil sie etwas zu lange hinschaute, stieß sie mit der Schüssel gegen ein Hindernis, und die Hahnhoden verteilten sich auf dem ganzen Boden. Zufällig ging gerade eine »Tante« aus der Nachbarschaft vorbei und erblickte zufällig das Paar; und ebenso zufällig war sie eine Cousine von Meister Yan. Sie agierte deshalb an diesem Tag als Heiratsvermittlerin und durfte sogar die Hoden verspeisen.

»Laibao, ihr Chus braucht zu Hause einen Schwiegersohn. Yan Zhenqing wird der Mann deiner ältesten Schwester. Wenn du groß bist, dann lernst du bei ihm Tiermedizin und wie man Viehzeug kastriert.« Die »Tante« war gerade durch den Haupteingang getreten, als sie auf Chu Laibao traf, einen Jungen mit flachem Gesicht. »Einen besseren Beruf wie den kri