: Sara Gruen
: Wasser für die Elefanten Roman
: DuMont Buchverlag
: 9783832185657
: 1
: CHF 8.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gegen alle Widerstände - die märchenhafte Liebesgeschichte von Jacob und Marlena Amerika, 1931, die Wirtschaftskrise hat das Land fest im Griff. Der junge Tierarzt Jacob steht nach dem Unfalltod seiner Eltern vor dem Nichts. Verzweifelt springt er auf irgendeinen Zug auf - und landet bei Benzinis spektakulärster Show der Welt, einem drittklassigen Wanderzirkus. Unter Artisten, menschlichen Kuriositäten, den überall hinter den Kulissen schuftenden Arbeitern und den wunderbaren Tieren der Menagerie findet Jacob rasch Freunde. Und bald verliert er auch sein Herz: an die zauberhafte Dressurreiterin Marlena - und fast gleichermaßen an Rosie, eine reizende, verfressene Elefantendame, die hartnäckig jedes Kunststück verweigert. Leider ist Rosies Sturheit in den Hungerzeiten der Großen Depression ein echtes Problem - wenn auch kein so großes wie Marlenas gefährlich eifersüchtiger Ehemann. «Eine großartige Geschichte - spannend, unterhaltend, bewegend, komisch, traurig, wie eine richtig gute Vorstellung in einem Weltklassezirkus.» CHRISTINE WESTERMANN, WDR

Sara Gruen schrieb vor 'Wasser für die Elefanten' (DuMont 2008) zwei Jugendromane. Sie lebt mit ihrem Mann, drei Kindern, vier Katzen, zwei Ziegen, zwei Hunden und einem Pferd in North Carolina.

Eins

Ich bin neunzig. Oder dreiundneunzig. So oder so.

Wenn man fünf ist, weiß man auf den Monat genau, wie alt man ist. Auch in den Zwanzigern weiß man noch, wie alt man ist. Ich bin dreiundzwanzig, sagt man, oder: Ich bin siebenundzwanzig. Aber dann, so ab dreißig, geschieht etwas Seltsames. Anfangs ist es nicht mehr als ein Stolpern, ein kurzes Zögern. Wie alt bist du? Oh, ich bin…– man fängt zuversichtlich an, aber dann gerät man ins Stocken. Man wollte sagen dreiunddreißig, aber das stimmt nicht. Fünfunddreißig wäre richtig. Und das beunruhigt einen, denn man fragt sich, ob das der Anfang vom Ende ist. Genau das ist es, aber es dauert noch Jahrzehnte, bis man es zugibt.

Man fängt an, Wörter zu vergessen: Sie liegen einem auf der Zunge, aber anstatt sich schließlich von ihr zu lösen, bleiben sie kleben. Man geht nach oben, um etwas zu holen, und wenn man dort angekommen ist, weiß man nicht mehr, was man wollte. Man spricht sein Kind mit den Namen aller anderen Kinder und sogar mit dem des Hundes an, bevor einem der richtige einfällt. Manchmal vergisst man, welcher Tag gerade ist. Und schließlich vergisst man das Jahr.

Eigentlich habe ich es gar nicht vergessen. Man könnte eher sagen, ich habe nicht mehr darauf geachtet. Die Jahrtausendgrenze haben wirüberschritten, so viel weiß ich– das ganze Tamtam wegen gar nichts,überall junge Leute, dieängstlich losschnattern und Konservendosen kaufen, weil irgendwer zu faul war, vier statt nur zwei Ziffern vorzusehen –, aber das könnte letzten Monat oder vor drei Jahren gewesen sein. Und außerdem, was macht es denn schon? Wo ist der Unterschied zwischen drei Wochen oder drei Jahren oder sogar drei Jahrzehnten Erbsenpüree, Tapioka und Windelhöschen?

Ich bin neunzig. Oder dreiundneunzig. So oder so.

Entweder hat es einen Unfall gegeben, oder draußen ist eine Baustelle, denn eine Schar alter Damen steht wie gebannt vor dem Fenster am Ende des Flurs, wie Kinder oder Knastschwestern. Sie sind feingliedrig und zerbrechlich, ihr Haar ist so zart wie Nebel. Die meisten von ihnen sind gut zehn Jahre jünger als ich, und das erstaunt mich. Auch wenn der Körper einen verrät, der Geist will es nicht wahrhaben.

Ich parke im Flur, neben mir meine Gehhilfe. Seit meinem Hüftbruch habe ich Gott sei Dank gute Fortschritte gemacht. Eine Zeit lang sah es so aus, als könnte ich nie wieder gehen– deswegen habe ich michüberhauptüberreden lassen, hierher zu ziehen –, aber jetzt stehe ich alle paar Stunden auf und mache ein paar Schritte, und jeden Tag komme ich ein Stückchen weiter, bevor ich umkehren muss. Es steckt doch noch Leben in diesen alten Knochen.

Jetzt stehen schon fünf weißhaarige alte Damen da, zusammengedrängt deuten sie mit gekrümmten Fingern auf die Scheibe. Ich warte einen Moment ab, ob sie wieder gehen, aber sie bleiben.

Ich schaue nach unten, um zu sehen, ob meine Bremsen angezogen sind, stehe vorsichtig auf und halte mich an der Armlehne meines Rollstuhls fest, während ich den Wechsel zur Gehhilfe wage. Sobald ich ordentlich stehe, umklammere ich die grauen Gummipolster an den Handgriffen und schiebe die Gehhilfe vorwärts, bis meine Ellbogen durchgedrückt sind, damit schaffe ich genau eine Bodenfliese. Ich ziehe den linken Fuß nach vorne, passe auf, dass ich sicher stehe, und ziehe dann den anderen Fuß nach. Schieben, ziehen, warten, ziehen. Schieben, ziehen, warten, ziehen.

Der Flur ist lang, und meine Füße wollen nicht mehr so wie früher. Zum Glück habe ich nicht die Lähmung, die Camel hatte, aber ich bin trotzdem langsam. Der arme, alte Camel– ich habe seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht. Seine Füße schlackerten so kraftlos, dass er die Knie hoch anheben und nach vorne schleudern musste. Ich schlurfe, als hätte ich Gewichte an den Füßen, und weil mein Rücken krumm ist, schaue ich ständig auf meine Hausschuhe zwischen den Beinen der Gehhilfe.

Es dauert seine Zeit, bis ich das Flurende erreiche, aber ich schaffe es– und zwar auf eigenen Füßen. Ich freue mich wie ein Schneekönig, aber als ich da bin, fällt mir auf, dass ich es auch wieder zurück schaffen muss.

Die alten Damen machen mir Platz. Sie gehören zu den Agilen, sie sind entweder selbst noch mobil oder haben Freundinnen, die sie herumfahren. Diese alten Mädels sind noch ganz klar im Kopf, und sie sind nett zu mir. Ich bin hier eine Seltenheit– ein alter Mann in einem Meer von Witwen, die sich noch immer nach ihren verstorbenen Männern sehnen.

»Oh, hier«, gurrt Hazel.»Lasst Jacob mal sehen.«

Sie zieht Dollys Rollstuhl ein Stück zurück und schlurft händeringend neben mich, ihre trüben Augen strahlen.»Ach, ist das aufregend! Sie sind schon den ganzen Morgen zugange.«

Ich arbeite mich zum Fenster vor, hebe den Kopf und blinzle in die Sonne. Es ist so hell, dass ich einen Augenblick brauche, um zu erkennen, was da vor sich geht. Dann nehmen die Schemen Gestalt an.

Im Park am Ende des Blocks steht ein riesiges Zelt mit breiten weißroten Streifen und einer unverkennbaren Spitze …

Meine Pumpe macht einen solchen Sprung, dass ich mir eine Faust an die Brust presse.

»Jacob! Oh, Jacob!«, ruft Hazel.»Du meine Güte!« Sie wedelt aufgeregt mit den Händen und dreht sich zum Flur um.»Schwester! Schwester, schnell! Mr. Jankowski!«

»Mir geht’s gut«, sage ich hustend und klopfe mir auf