«Und in der Tat ist ein solches Pferd, das sich hebt, etwas so Schönes, Bewunderns- und Staunenswürdiges, daß es aller Zuschauer Augen, sowohl junger als älterer, auf sich zieht.»[*]
Xenophon, Über die Reitkunst,ca. 350 v. Chr.
Kapitel 1
Der Zug um sechs Uhr siebenundvierzig war überfüllt. Natasha Macauley setzte sich auf einen der letzten freien Plätze und bat leise die Frau um Verzeihung, die ihretwegen ihre Jacke aus dem Weg räumen musste. Der Mann im Anzug, der nach ihr eingestiegen war, quetschte sich in die Lücke zwischen den beiden Fahrgästen ihr gegenüber und schlug unverzüglich seine Zeitung auf, ohne wahrzunehmen, dass er damit der Frau neben ihm teilweise die Sicht auf ihr Taschenbuch nahm.
Es war ein für Natasha ungewöhnlicher Arbeitsweg. Sie hatte nach einem juristischen Vortrag die Nacht in einem Hotel in Cambridge verbracht. In ihrer Jackentasche befand sich eine zufriedenstellende Anzahl von Visitenkarten diverser Anwälte, die ihr zu ihrem Vortrag gratuliert und eine gelegentliche Zusammenarbeit vorgeschlagen hatten.
Natasha umklammerte ihren heißen Pappbecher mit Kaffee, blickte auf ihren Terminkalender hinab und gab sich selbst das Versprechen, dass sie irgendwann an diesem Tag mehr als eine halbe Stunde freischaufeln würde, um ihren Kopf durchzulüften. Sie würde einen Besuch im Fitnessstudio einplanen. Und sie würde sich eine Stunde Zeit zum Mittagessen nehmen. Sie würde, wie es ihre Mutter immer anmahnte,sorgsam mit sich umgehen.
Aber im Augenblick stand da:
9 Uhr: L.A. gegen Santos, Gerichtssaal 7
Die Persey-Scheidung. Psychologisches Gutachten Kind?
Gebühren! Mit Linda sprechen wegen Prozesskostenhilfe
Fielding – Wo ist die Zeugenaussage?HEUTE FAXEN
Jede Seite ihres Kalenders war mindestens zwei Wochen im Voraus mit unbarmherzigen, endlos aktualisierten Listen gefüllt. Ihre Kollegen bei Davison Briscoe nutzten alle elektronische Kalender auf ihren iPhones und BlackBerries, um damit ihre Leben zu organisieren, aber sie bevorzugte die einfachen Mittel Stift und Papier, auch wenn ihre Sekretärin Linda sich darüber beschwerte, dass ihre Zeitpläne unlesbar seien.
Natasha nippte an ihrem Kaffee, bemerkte das Datum und zuckte zusammen. Sie fügte hinzu:
Der Zug rumpelte in Richtung London, das Tiefland von Cambridgeshire ging über in die grauen Industrieausläufer der Stadt. Natasha starrte auf ihre Unterlagen und bemühte sich krampfhaft um Konzentration. Sie saß einer Frau gegenüber, die es offenbar in Ordnung fand, zum Frühstück einen Hamburger mit extra Käse zu essen, und einem Teenager, dessen leerer Gesichtsausdruck nicht zu dem Beat passte, der aus seinen Kopfhörern drang. Es würde ein erbarmungslos heißer Tag werden.
Sie schloss die Augen, öffnete sie dann wieder, als ihr Mobiltelefon piepte. Sie wühlte in ihrer Tasche und machte es zwischen Make-up und Portemonnaie ausfindig. EineSMS leuchtete auf:
Kommunalbehörde gibt im Watson-Fall nach. Sie müssen um neun nicht ins Gericht. Ben
Seit vier Jahren war sie nun bei Davison Briscoe, und ihr Rec