Kapitel 1
New York, August 1940
»Dort?«, fragte Ilse aufgeregt. Sie kniff die Augen zusammen, schob ihre Brille fast bis vor die Augen und starrte nach rechts. »Ist sie dort?«
»Nein, Ilse«, sagte Ruth belustigt. »Schau nach links. Da ist sie – allerdings kann man sie bisher nur erahnen.« Sie wies ihrer Schwester die Richtung.
»Ich sehe nichts«, brummte Karl verdrossen. »Gar nichts.«
»Ich fürchte, in Chicago müsst ihr beide zum Augenarzt und werdet eine neue Brille brauchen«, meinte Martha nachdenklich. »Ich hoffe, wir können uns das leisten«, fügte sie fast tonlos hinzu.
»Mach dir keine Gedanken«, sagte Karl Meyer und legte seiner Frau den Arm um die Schulter. »Alles wird gut werden.«
Obwohl Ruth – im Gegensatz zu ihrer Schwester Ilse – die Augenkrankheit ihres Vaters nicht geerbt hatte, kniff auch sie die Augen zusammen. Heute Morgen schon war der Ruf »Land in Sicht« ertönt; alle waren an Deck geeilt und hatten in die Ferne gestarrt. Doch Ruth hatte nur eine Art Schatten am Horizont erkannt – das hätten auch niedrighängende Wolken sein können. Enttäuscht war sie zum Frühstück zurückgekehrt. Der Atlantik war ruhig, und fast alle Mitreisenden hatten sich von der Seekrankheit erholt, deshalb war der Speisesaal voller als in den letzten Tagen.
»Noch zwei Mahlzeiten an Bord«, hatte Mutti gesagt und aus dem Fenster geschaut – wo aber außer Wasser nichts zu sehen war. »Heute Abend sind wir endlich in Amerika.«
Ja, hatte Ruth gedacht – aber was dann? Vor mehr als einer Woche waren sie in Liverpool auf das Schiff gegangen. Die Überfahrt nach New York sollte nur sechs Tage dauern, doch die Scythia war von der normalen Linienroute abgewichen, nachdem sie den Konvoi, der sie begleiten sollte, verloren hatten. Die Gefahr, von deutschen U-Booten angegriffen zu werden, war groß, und der Kapitän hatte sich dazu entschlossen, im Zickzack zu fahren. Auch Funkverbindungen waren schwierig, die Deutschen versuchten jeden Funkspruch abzufangen, hatte Johnny, einer der kanadischen Soldaten, die mit auf dem Schiff waren, Ruth erklärt.
Dies war eigentlich ihre Fahrt in die Zukunft. Eine Fahrt, die sich die Familie Meyer so lange ersehnt, auf die sie hin gefiebert hatte. Es sollte die Reise in die Freiheit werden, weg von den Nazis und ihren lebensbedrohlichen Repressionen. Es sollte, so hatte es sich Ruth früher ausgemalt, eine glückliche, fröhliche Reise werden, aber das war es nicht. Die Angst saß ihnen immer noch im Nacken, und all die Meldungen über zivile Schiffe, die angegriffen wurden, machten es nicht leichter.
Nichts ist mehr unbeschwert, dachte Ruth, seit der Pogromnacht. Damals hat sich alles verändert, alles war schrecklich geworden, noch schrecklicher, als es zuvor schon gewesen war. Seit dieser Nacht hatte Ruth die Angst als ständigen Begleiter bei sich. Das hatte sich auch nicht geändert, als sie in England die Stelle als Haushaltshilfe auf der Farm der Sandersons antreten konnte, als sie endlich Nazideutschland verlassen hatte. Das war erst vor etwas mehr als einem Jahr gewesen, dennoch er