Unter dem abgeschrägten Dach des Meditationsraums lagerte Stille. Nicht einmal die beiden Kerzenflammen rührten sich. Ihr Schein erweckte das goldene Antlitz des Buddhas auf dem kniehohen Altar zum Leben. Seine Augen standen offen. Er lächelte nicht wirklich. Die machtvolle Ausstrahlung, die von ihm ausging, entsprang vielmehr der Präsenz seiner Haltung.
Da ich eher an Buddhas mit geschlossenen Augen gewöhnt war, bereitete mir dieser Buddha Unbehagen. Ich fühlte mich von ihm beobachtet, schutzlos. In seiner Gegenwart fehlte mir die Empfindung von Geborgenheit, die mich üblicherweise an Buddhas anzog. Ich konnte mich nicht unwillkürlich in die Stille fallen lassen, die von diesem Buddha ausstrahlte. Die Stille entsprang nicht Entrücktheit. Der Blick durchdrang mein Sehnen nach emotionaler Preisgabe schonungslos. Er legte es in einem Mass bloss, das mir Angst einflösste. Emotionale Preisgabe war nicht, worum es ging. Ganz offensichtlich nicht. Ich wurde durch und durch geröntgt – und es hätte gnadenlos wirken können, wäre da nicht gleichzeitig diese Haltung bar jeden Urteils gewesen.
Je mehr ich die Scheu überwand, dem vor mir Thronenden ins Angesicht zu schauen, desto mehr strömte der Ausdruck von Güte. Von bedingungslosem Mitgefühl in mich hinein. Ich spürte meinen Körper in jeder Zelle. Ich spürte das Pulsieren. Das Vibrieren meines Lebendigseins in jeder Zelle. Das war nicht neu für mich. Doch dass es durch diese Präsenz geschah, machte es neu. Ich liess es zu. Und je stärker es wurde, desto langsamer und feiner floss mein Atem. Ausatem und Einatem vereinigten sich zu einem Strom. Ich war nicht da: niemand war mehr da, der atmete. Es geschah aus sich selbst. Atem geschah durch mich. Ich war das Instrument dafür. In mir dröhnte es wie in einem Hochleistungstransformer. Die Zeit stand still.
Als mich der Abt später fragte, ob mir der Buddha gefallen habe, teilte ich ihm mein anfängliches Befremden mit. Er kicherte sein zwitscherndes Thai-Lachen, das so ansteckend wirkt, und verlautete gedehnt: „Ja“. Sein Blick durchforschte meinen Blick. Ich hielt stand. Denn ich wollte gesehen werden. Mit jeder Faser meines Seins wollte ich gesehen werden. Ich erkannte den Meister im Blick des Abts. Denn einen solchen brauchte ich nun. Und ich war bereit, ihm vorbehaltlos zu vertrauen.
Nach einer Weile bemerkte der Abt: „Ich sehe, du hast schon viel in dir gearbeitet“. Worte, die einen Feuerstrom durch meinen Körper sandten, Tränen in meine Augen trieben.
Der Abt sass in etwa drei Metern Entfernung im Lotossitz auf einem schwarzen Ledersofa im Eingangsbereich des Mönchshauses. Ich selbst kauerte auf einem Sessel ihm gegenüber - als lautlos ein zweiter Mönch herbei schwebte und mich in gebrochenem Englisch fragte, ob ich Wasser, Tee oder Kaffe möchte. Verwirrt stotterte ich, ich bräuchte nichts von alledem. Doch der Mönch hakte geduldig nach. Und so entschied ich mich für Tee, dankbar für diesen Moment von Alltäglichkeit.
Ich hatte während Jahrzehnten mit Lehrern in verschiedenen Schulen gearbeitet. Es war mir wichtig, Schulen unterschiedlicher Richtungen, unterschiedlicher religiöser Hintergründe kennen zu lernen. Ich scheute mich vor Eingleisigkeit und der oft damit einhergehenden Abhängigkeit. Ich war auf der Suche nach dem, was allen Traditionen innewohnt, was allem Leben zugrunde liegt – jenseits dogmatischer Ansichten und Meinungen. Deshalb wollte ich die Essenz wenigstens der grossen Weltreligionen kennen lernen.
Zum Zeitpunkt meines ersten Besuchs beim Abt des Thaibuddhistischen Klosters in Gretzenbach in der Schweiz, hatte sich mein langjähriger Sufi-Meister aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Seine Schule und die in verschiedenen Ländern existierenden Gruppen bestanden zwar noch. Man arbeitete weiterhin miteinander. Doch mir genügte das nicht. Ich wollte direkt von der Quelle trinken. Also brauchte ich einen Lehrer, mit dem ich in unmittelbaren Kontakt treten konnte. Zudem wünschte ich mir kompetente Führung in Meditation.
Zu diesem Zweck war ich zu verschiedenen Klöstern, die Meditationsmöglichkeiten anboten