: Harlan Coben
: Sein letzter Wille - Myron Bolitar ermittelt Thriller
: Goldmann
: 9783641085292
: Myron-Bolitar-Reihe
: 1
: CHF 8.00
:
: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 384
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wir alle lügen - um die, die wir lieben, vor der Wahrheit zu beschützen ...
Rockstar Lex und seine Frau Suzze führen eine äußerst glückliche Ehe. Voller Vorfreude erwarten sie die baldige Geburt ihres ersten Kindes - bis ein böswilliger Facebook-Kommentar Lex' Vaterschaft anzweifelt. Der verschwindet daraufhin spurlos, und verzweifelt bittet Suzze ihren Agenten Myron Bolitar um Hilfe. Myron willigt ein, ohne die Angelegenheit sonderlich ernst zu nehmen. Doch dann wird er mit einer ersten Leiche konfrontiert - und mit den Abgründen der eigenen Familiengeschichte ...

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nachdem er zunächst Politikwissenschaft studiert hatte, arbeitete er später in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Thriller wurden bisher in 45 Sprachen übersetzt, erobern regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten und wurden zu großen Teilen verfilmt. Harlan Coben, der als erster Autor mit den drei bedeutendsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet wurde - dem Edgar Award, dem Shamus Award und dem Anthony Award -, gilt als einer der wichtigsten und erfolgreichsten Thrillerautoren seiner Generation. Er lebt mit seiner Familie in New Jersey.

3


Eine Stunde später stolzierte Windsor Horne Lockwood III – den diejenigen, die ihn fürchteten (und das waren fast alle), als Win kannten – in Myrons Büro. Win konnte ausgezeichnet stolzieren – es wirkte fast so, als trüge er einen schwarzen Smoking mit Rockschößen und Zylinder und wirbelte dazu einen Spazierstock herum. Stattdessen trug er eine rosa-grüne Lilly-Pulitzer-Krawatte, einen blauen Blazer mit einer Art Wappen auf der Brust und Khakis mit einer so scharfen Bügelfalte, dass man sich daran schneiden konnte, und dazu Mokassins ohne Socken. Im Grunde sah er so aus, als käme er direkt von einem Segeltörn mit derSS Altes Geld.

»Suzze T war gerade da«, sagte Myron.

Win nickte.»Ich hab sie noch gesehen.«

»Sah sie besorgt aus?«

»Ist mir nicht aufgefallen«, sagte Win und setzte sich. Dann:»Ihre Brüste waren sehr prall.«

Win.

»Sie hat ein Problem«, sagte Myron.

Win lehnte sich zurück und schlug mit der ihm eigenen, gespannten Leichtigkeit die Beineübereinander.»Erzähl.«

Myron drehte den Computermonitor so, dass Win ihn sehen konnte. Suzze hatte vor ungefähr einer Stunde etwasÄhnliches getan. Myron dachteüber die beiden Worte nach. Für sich genommen waren sie vollkommen harmlos, allerdings ging es im Leben immer um Zusammenhänge. Und in diesem Zusammenhang wurde es durch diese beiden Worte kühler im Raum.

Win sah auf den Bildschirm, kniff die Augen zusammen und griff dann in seine Brusttasche. Er zog eine Lesebrille heraus. Er hatte sie sich vor gut einem Monat besorgt, und obwohl Myron es für unmöglich gehalten hatte, sah er damit noch hochnäsiger und arroganter aus als vorher. Außerdem deprimierte die Anwesenheit der Brille Myron ungemein. Win und er waren nicht alt – noch längst nicht –, aber, um die Golfanalogie zu bemühen, die Win benutzt hatte, als er die Brille in Myrons Gegenwart zum ersten Mal aufsetzte:»Wir sind ganz offiziell auf der Back Nine des Lebens.«

»Ist das eine Facebook-Seite?«, fragte Win.

»Ja. Suzze sagte, sie macht damit Werbung für ihre Tennisakademie.«

Win beugte sich etwas näher heran.»Ist das ihr Ultraschall?«

»Ja.«

»Und inwiefern kann man mit einem Ultraschallbild Werbung für eine Tennisakademie machen?«

»Das habe ich sie auch gefragt. Sie meinte, so eine Akademie bräuchte eine persönliche Note. Die Leute wollten nicht nur normale Werbung lesen.«

Win runzelte die Stirn.»Sie stellt ein Ultraschallbild von einem Fötus ins Netz?« Er sah Myron an.»Findest du das logisch?«

Das fand Myron nicht. Trotzdem – wo er Win mit der Lesebrille vor sich sah und sie gemeinsamüber das moderne Leben mit den sozialen Netzwerken jammerten – kam er sich alt vor.

»Achte auf die Kommentare unter dem Bild«, sagte Myron.

Win sah ihn mit ausdrucksloser Miene an.»Die Leute kommentieren ein Ultraschallbild?«

»Lies sie einfach.«

Win las. Myron wartete. Er kannte die Seite inzwischen fast auswendig. Es gab insgesamt 26 Kommentare zu dem Bild, meistens Glückwünsche. Suzzes Mutter, das (alt gewordene) Paradebeispiel einerüberehrgeizigen Tennismutter, hatte geschrieben:»An alle: Ich werde Oma. Juhu!« Jemand namens Amy sagte:»Och, niedlich!!!« Ein scherzhaftes:»Ganz der Vater! ;)«, von einem Studiodrummer, der mit HorsePower zusammengearbeitet hatte. Ein Kelvin schrieb:»Glückwunsch!!« Tami fragte:»Wann soll das Baby denn kommen, Schatz?«

Beim dritten von unten stoppte Win.»Witzbold.«

»Welcher?«

»Ein Scheißtyp namens Erik hat geschrieben« – Win räusperte sich und beugte sich näher an den Monitor– :»… Dein Baby sieht aus wie ein Seepferdchen‹, dann hat Erik der Spaßvogel noch ein›LOL‹ angefügt.«

»Das ist nicht das Problem.«

Win beruhigte das nicht.»Trotzdem sollte man dem guten Erik eventuell einen Besuch abstatten.«

»Lies einfach weiter.«

»Gut.« Wins Miene zeigte nur sehr selten eine Regung. Sowohl für Geschäftsangelegenheiten als auch für Kämpfe hatte er sich antrainiert, sich nichts anmerken zu lassen. Aber ein paar Sekunden später sah Myron, wie sich die Augen seines alten Freundes verdunkelten. Win blickte auf. Myron nickte. Denn Myron wusste, dass Win die beiden Worte entdeckt hatte.

Sie standen ganz unten auf der Seite. Sie standen in einem Kommentar von»Abeona S«, ein Name, der Myron nichts sagte. Das Profilbild war eine Art Symbol, vielleicht ein chinesischer Buchstabe. Und daneben standen in Großbuchstaben ohne irgendwelche Satzzeichen die beiden einfachen und doch so aufwühlenden Worte:

»NICHT SEINS«

Schweigen.

Dann sagte Win:»Autsch.«

»Eben.«

Win nahm die Brille ab.»Muss ich die offensichtliche Frage stellen?«

»Die da lautet?«

»Ist es wahr?«

»Suzze schwört, dass es von Lex ist.«

»Glauben wir ihr?«

»Das tun wir«, sagte Myron.»Ist das wichtig?«

»Rein moralisch gesehen nicht, nein. Willst du meine Theorie hören? Das ist das Werk eines kastrierten Spinners.«

Myron nickte.»Das ist das Gute am Internet: Jeder bekommt eine Stimme. Das Schlechte am Internet: Jeder bekommt eine Stimme.«

»Es ist die Bastion der Feiglinge und Namenlosen«, pflichtete Win ihm bei.»Suzze sollte das lieber löschen, bevor Lex es sieht.«

»Zu spät. Das ist ein Teil des Problems. Lex ist irgendwie abgehauen.«

»Verstehe«, sagte Win.»Dann sollen wir ihn suchen.«

»Und nach Hause bringen, ja.«

»Dürfte nicht allzu schwer sein, einen berühmten Rockstar zu finden«, sagte Win.»Und der andere Teil des Problems?«

»Sie will wissen, wer das geschrieben hat.«

»Die wahre Identität von Mr. Kastrierter Spinner?«

»Suzze meint, es steckt mehr dahinter. Sie glaubt, irgendjemand hat es richtig auf sie abgesehen.«

Win schüttelte den Kopf.»Das ist ein kastrierter Spinner.«

»Komm schon. Einfach›Nicht seins‹ zu schreiben ist schon ziemlich krank.«

»Dann ist es eben einkranker kastrierter Spinner. Hast du dir diesen Mist im Internet schon mal genauer angesehen? Geh auf irgendeine Nachrichtenseite und sieh dir die rassistischen, homophoben, paranoiden›Kommentare‹ an.« Er zeichnete mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft.»Da möchte man am liebsten den Mond anheulen.«

»Ich weiß, aber ich habe ihr versprochen, mich darum zu kümmern.«

Win seufzte, setzte die Brille wieder auf und beugte sich zum Monitor.»Das wurde von einer Person namens Abeona S gepostet. Können wir davon ausgehen, dass es sich dabei um