1. KAPITEL
„Vielen Dank, dass ihr an unserer gemeinsamen Yogastunde teilgenommen habt. Ich wünsche euch einen wundervollen Tag. Namaste!“
Mit einem strahlenden Lächeln blickte Sam in die Runde. Die Teilnehmerinnen ihres Kurses lösten sich mehr oder weniger graziös aus ihrem Lotussitz. Es handelte sich durchweg um ältere Damen, die zwar nicht immer die nötige Körperspannung, dafür aber umso mehr Begeisterung mit in den Unterricht brachten.
Maud Redding eilte mit hochrotem Kopf auf sie zu. Wie üblich hatte sie sich die voluminöse Patchworktasche unter den Arm geklemmt, in der sie ihr Strickzeug, ein oder zwei Bücher und anderen lebenswichtigen Krimskrams mit sich herumtrug. „Oh, Sam, es war wieder ganz zauberhaft! Ich fühle mich vollkommen entspannt.“
Auch ihre Schwester Lily gesellte sich zu ihnen. „Ich wüsste nicht, was ich ohne deine Stunden anfangen sollte. Heute Morgen war ich so verspannt, dass ich fast nicht aus dem Bett gekommen bin. Aber jetzt könnte ich wieder herumspringen wie ein junges Mädchen.“
Die beiden Schwestern kicherten synchron. Sie stammten aus Manchester, hatten bis zu ihrer Pensionierung in derselben Firma gearbeitet und waren beide unverheiratet. Seit zehn Jahren kamen sie jedes Jahr im Sommer für vier Wochen nach St. Leon, um hier ihren Urlaub zu verbringen. Seit dem Tag, an dem Tante Edith ihr kleines Familienhotel an der Côte d’Azur eröffnet hatte.
Sams Yogastunden fanden auf der Terrasse statt, mit Blick über den Strand und das tiefblaue Mittelmeer. Nachdem sie ihre Yogamatte eingerollt hatte, schlenderte sie zu den Frühstückstischen, wo ihre Tante schon auf sie wartete. Auf dem Loungesessel neben ihr thronte Madame Suzette, eine schneeweiße Perserkatze, und ließ sich hoheitsvoll von Tante Edith unter dem Kinn kraulen. Rochelle, die als Aushilfe im Hotel arbeitete, stellte gerade eine Kanne dampfenden Kaffee und einen Korb Croissants auf den Tisch. Dann eilte sie zurück in die Küche.
„Post für dich!“, rief Tante Edith und schwenkte einen Umschlag, als Sam näher kam. „Von Carolyn. Da der Brief an uns beide adressiert ist, habe ich ihn schon mal aufgemacht. Es ist die Hochzeitseinladung!“
Mit gemischten Gefühlen zog Sam die Karte aus dem Kuvert. Sie war aus dickem Büttenpapier, mit Golddruck und einem Wappen im Briefkopf.Carolyn Whitmore und Davide d’Oriza prangte in der Mitte der Einladung, darunter waren zwei ineinander verschlungene goldene Herzen eingeprägt. Natürlich gönnte Sam ihrer Schwester ihr Glück. Sie freute sich von ganzem Herzen für sie, nach allem, was Carolyn durchgemacht hatte. Aber …
„Du siehst nicht sehr erfreut aus“, stellte Tante Edith fest, während sie Madame Suzette mit einem Croissant fütterte. Ihr feuerrotes gekräuseltes Haar hatte sie mit einem farbenfrohen Tuch umschlungen, das ihre Mähne jedoch nur mühsam bändigte. Dazu trug sie einen weiten türkisblauen Kaftan, der mit einer aufwendigen Stickerei verziert war, ein Mitbringsel von ihrer letzten Marokkoreise. Tante Edith war eine rastlose Seele, die es immer wieder an exotische Orte trieb. Es war ein Wunder, dass sie sich vor zehn Jahren dazu entschieden hatte, in Südfrankreich sesshaft zu werden und die Auberge du Soleil zu erwerben, die an der Westküste der kleinen Insel St. Leon lag.
„Oh nein, ich dachte nur gerade …“ Schuldbewusst brach Sam ab. „Ich freue mich sehr auf die Hochzeit, wirklich. Es ist wundervoll, dass Carolyn nach der Enttäuschung mit Andrew ihr Glück gefunden hat. Und auch Annabelle … es ist so schön, dass Mia und sie endlich eine richtige Familie haben.“
Die Nachricht von der Hochzeit ihrer ältesten Schwester Annabelle mit dem vermögenden Unternehmer Nick Stephens hatte sie mehr als überrascht. Obwohl Annabelle schon seit geraumer Zeit Nicks Sekretärin war, hätte Sam