2. Kapitel
Die Frau war knapp einen Meter fünfzig groß und stützte sich auf einen Stock, wie ein weises Mütterchen aus einem Märchen. Ihr graues Haar musste früher einmal tiefschwarz gewesen sein, jedenfalls deuteten vereinzelte dunkle Strähnen darauf hin. Die vielen Furchen auf ihrem blassen Gesicht erzählten die Geschichte eines langen Lebens.
Kim wunderte sich über diesen Gedanken. Eben noch hatte sie an nichts anderes denken können als an den Tod. Jetzt betrachtete sie das Gesicht der alten Frau wie ein Buch, das Hunderte Geschichten zu erzählen hatte.
»Der Leuchtturm ist faszinierend, nicht wahr?«, fragte die Alte lächelnd. »Sie müssen ihn mal sehen, wenn das Meer so richtig tobt. Dann erkennt man ihn unter den Wellen kaum noch. Man glaubt, dass er verschluckt werden würde, doch dann taucht er wieder auf, frisch gewaschen und so unnachgiebig wie vorher.«
Kim starrte die Frau verwundert an, und dann nickte sie. »Ja … das ist sicher interessant.«
Die Frau legte den Kopf schräg und betrachtete sie. »Sie sind nicht von hier, nicht wahr? Woher kommen Sie?«
»Bristol«, antwortete Kim der Einfachheit halber, dann wandte sie das Gesicht kurz der Küste zu. Es wäre so leicht, sich jetzt nach hinten fallen zu lassen. Bis die alte Frau die Rettungskräfte geholt hätte, wäre sie längst tot. Doch ihre Entschlossenheit war verflogen. Sie würde eine andere Gelegenheit abwarten müssen.
»Bristol«, wiederholte die Alte. »Sehr schöner Ort. Als ich jung war, war ich einmal dort.«
Kim verwirrten diese Worte so sehr, dass sie nicht wusste, was sie darauf sagen sollte. Doch da streckte ihr die Alte auch schon ihre freie Hand entgegen.
»Freut mich, ich bin Janet Hathington. Bitte verzeihen Sie, wenn ich Ihre Ruhe gestört habe, aber ich komme mittlerweile nur noch selten aus dem Haus, und noch seltener treffe ich hier jemanden, der die Schönheit dieser Klippe zu würdigen weiß. Meist sieht man nur Touristenhorden, die vor lauter Fotografieren vergessen, den Augenblick zu genießen. Sie haben keine Kamera dabei, das finde ich interessant.«
Was soll jemand, der sich umbringen will, mit einer Kamera?, lag es Kim schon auf der Zunge. Eher schießt man mit dem Handy ein letztes Selfie. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit, dass das Handy ebenso wie ihr Körper zu Bruch ging, groß.
»Ich … ich wollte einfach nur schauen«, sagte Kim ausweichend, und beinahe ärgerte sie sich ein wenig über die alte Frau. Wäre sie nicht aufgetaucht, hätte ihr Schmerz bereits ein Ende. Dennoch streckte sie ihr die Hand entgegen. »Kim Sanders.«
»Schön, Sie kennenzulernen! Darf ich Kim zu Ihnen sagen? Ich vergesse immer so furchtbar schnell Nachnamen. Komischerweise kann ich mir Vornamen sehr gut merken.«
Ein unbeabsichtigtes Lächeln huschte über Kims Gesicht. Ein wenig erinnerte die alte Frau sie an ihre eigene Großmu