1. KAPITEL
Arsène
Die alten pastellfarbenen Häuser Portofinos mit den charakteristischen niedrigen Satteldächern stehen so dicht an dicht, dass man nicht einmal ein Blatt Papier dazwischenschieben könnte. Unten im Hafen dümpeln in gleichem Abstand zueinander sorgfältig vertäute Yachten, derweil ein paar letzte Sonnenstrahlen der einbrechenden Dämmerung trotzend das Mittelmeer in einen glitzernden Teppich verwandeln.
Ich faulenze auf dem Balkon meiner Hotelsuite mit Aussicht auf die italienische Riviera und beobachte einen Marienkäfer, der sich halb um die eigene Achse dreht, so wie die Marmorskulptur der Venus von Milo.
Ich verhelfe ihm wieder zum Gleichgewicht, dann trinke ich einen Schluck Weißwein und widme mich der Speisekarte, die auf meinem Schoß liegt. Heute Abend scheint das Wildschweinragout das teuerste Gericht zu sein, ergo werde ich es zwangsläufig bestellen, nur um zu sehen, wie die Idioten von der Buchhaltung vor ihrem Risotto ins Schwitzen geraten, wenn sie erkennen, dass diese Konferenz sie mehr Geld kosten wird, als sie auszugeben geplant hatten.
Firmenveranstaltungen sind der sichere Tod einer jeden guten Idee. Es ist allgemein bekannt, dass niemand auf einem formellen Event dieser Art ein nutzbringendes Geschäftsgeheimnis ausplaudern würde. Wertvolle Marktinformationen werden, genau wie Waffen, in den finsteren Seitengassen der Industrie gehandelt.
Es ist nicht mein Arbeitsplatz, der uns hierhergeführt hat. Tatsächlich habe ich gar keinen Arbeitsplatz, der diese Bezeichnung verdient hätte. Ich bin ein einsamer Wolf. Ein selbstständiger, nach Stunden bezahlter Unternehmensberater, der Hedgefonds-Gesellschaften dabei behilflich ist, sich im Dschungel potenzieller Kapitalanlagen zurechtzufinden. Ich sage ihnen, in was sie wie viel investieren sollen und wie sie die annualisierten Renditen, die ihre Kunden von ihnen erwarten, stemmen können. Meine Freunde vergleichen mich oft mit Chandler ausFriends. Keiner von ihnen versteht, was genau ich tue. Dabei ist mein Job eigentlich einfach erklärt: Ich helfe reichen Leuten, noch reicher zu werden.
»Ich probiere nur noch schnell das neue Kleid an«, ertönt an der Balkontür die wie ein Schnurren klingende Stimme einer Frau. »Ich brauche maximal zehn Minuten. Trink nicht zu viel. Du schaffst es ja schon nüchtern kaum, halbwegs höflich zu diesen spießigen Smokingträgern zu sein.«
Ich pfeffere die Speisekarte auf den Tisch neben mir, nehme mein Buch –Kurze Antworten auf große Fragen von Stephen Hawking – wieder zur Hand und blättere eine Seite weiter.
Da sich die Suite auf dem obersten Stockwerk des Hotels befindet, habe ich einen unverstellten Blick auf praktisch alle anderen gen Süden zum Hafen hin ausgerichteten Balkone.
Ich bemerke ein Paar zwei Etagen unter mir.
Die beiden sind die Einzigen, die auf ihrem Balkon den Sonnenuntergang genießen. Sie stecken die Köpfe zusammen. Seine Haare sind weizenblond, ihre eine tizianfarbene Mischung aus Gold und Rot, die an glühenden Wüstensand erinnert.
Er trägt einen schicken Anzug, sie ein schlichtes burgunderrotes Kleid, das billig, fast schon nuttig wirkt. Ein Callgirl? Nein. Hedgefonds-Magnaten von der Wall Street legen Wert a