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29 Tage vorher –
Águas Calmas, Brasilien
13. Januar 1888
Als ich aufwache, weiß ich im ersten Moment nicht, wo ich mich befinde. Aber eines weiß ich mit Gewissheit: Heute ist ein ganz besonderer Tag. Es fühlt sich so ähnlich an wie vor Weihnachten, wenn die erste Empfindung, die man beim Erwachen hat, prickelnde Vorfreude ist.
Ich blinzle, denn ein Sonnenstrahl fällt durch einen Spalt zwischen den Gardinen direkt auf meine Augen. Als ich mich endlich an die Helligkeit gewöhnt habe, lasse ich meinen Blick umherschweifen. Die hellblauen Vorhänge, die blau-weiß gestreiften Tapeten, der kleine Holztisch mit der Waschschüssel und dem angeschlagenen Krug aus Porzellan – ja, das ist zweifellos mein Zimmer. Und ebenso plötzlich, wie meine Orientierungslosigkeit verschwunden ist, weiß ich auch, welcher Tag heute ist: mein 15. Geburtstag.
Da er auf einen Freitag fällt, muss ich nicht lange auf die große Feier warten: Schon morgen wird meinefesta de quinze anos stattfinden, der wichtigste Tag im Leben eines jungen Mädchens. Dieses Fest zum 15. Geburtstag ist in Brasilien eine große Sache. Meine Freundin Alice, deren verstorbene Mutter Französin war, macht sich immer darüber lustig. In Europa, so behauptet sie, gebe es sogenannte Debütantinnenbälle, um die jungen Mädchen in die Gesellschaft und bei Hof einzuführen, und daran erkenne man mal wieder, wie rückständig Brasilien doch sei, wenn die Mädchen hier ganz private Feiern veranstalten müssten,bei den Eltern zu Hause, igitt.
Ich glaube, dass Alice in Wahrheit nur neidisch ist. Sie wird erst im September fünfzehn und wahrscheinlich gönnt sie mir mein großes Fest nicht. Dabei redet sie seit Wochen von nichts anderem. Sie ist nämlich sehr verliebt in meinen Cousin, und der ist natürlich, genau wie Alice, zu meinerfesta eingeladen. Sie kann es kaum erwarten, sich ihm an den Hals zu werfen, obwohl er ein ziemliches Scheusal ist.
Alice und ich reden in letzter Zeit häufig über Jungen und über die Liebe, obwohl meine Erfahrungen auf diesem Gebiet – leider – sehr begrenzt sind. Ich wünschte, ich könnte mit mehr Kenntnisreichtum aufwarten, und am liebsten wäre mir, ich hätte diese Kenntnisse mit Gustavo erworben. Ah, Gustavo … Allein beim Gedanken an ihn werden meine Knie weich. Aber ich habe in meinem ganzen Leben erst einen Kuss bekommen und der war vom Nachbarssohn. Dieser berühmte Kuss fand im vorletzten Jahr statt, als ich dreizehn war und er sechzehn. Es war, offen gestanden, kein Erlebnis, das ich allzu bald noch einmal haben möchte, jedenfalls nicht in dieser Form. Ich bin sicher, dass Gustavos Küsse ganz anders sein werden.
Alice weiß nichts von meiner heimlichen Liebe. Ich verstehe selbst nicht, warum ich sie nie eingeweiht habe, denn umgekehrt schildert sie mir jedes Detail ihrer amourösen Begegnungen. Vielleicht habe ich insgeheim Angst davor, dass sie sich über mich lustig macht oder, schlimmer noch, dass sie sich Gustavo