»Aber …«, begann Simon Daume, doch Leon Laurin ließ ihn nicht ausreden.
Er hatte einen Nachtdienst hinter sich, weshalb er bis in den späten Vormittag geschlafen hatte, was bedeutete, dass er wieder einmal in den Genuss eines von Simon zubereiteten Frühstücks kam. Normalerweise sahen sie sich nämlich nicht, der junge ›Haushaltsmanager‹ von Familie Laurin und der Chef der Kayser-Klinik, aber beide freuten sich, wenn es wieder einmal soweit war, denn sie unterhielten sich sehr gern miteinander.
Simon war zweiundzwanzig Jahre alt und führte Leon, seiner Frau Antonia und ihren vier Kindern den Haushalt, Kochen inbegriffen, seit Antonia wieder als Kinderärztin arbeitete. Er war aus dem Alltag der Familie nicht mehr wegzudenken. Zugleich war die Anstellung für ihn und seine beiden jüngeren Schwestern ein Segen, denn Simon war für sie verantwortlich, seit beide Eltern vor drei Jahren im Abstand weniger Monate verstorben waren.
Er hatte harte Jahre hinter sich, in denen er darum hatte kämpfen müssen, nicht von seinen Schwestern getrennt zu werden, da die zuständigen Behörden daran gezweifelt hatten, dass ein Neunzehnjähriger bereits die Verantwortung für zwei minderjährige Mädchen übernehmen konnte. Simon hatte sie jedoch überzeugen können, und jetzt hatte er außerdem ein festes Einkommen in einem Job, der ihm Spaß machte. Seine Karriere als Koch – er wollte auf jeden Fall eines Tages sein eigenes Restaurant führen – musste noch ein bisschen warten, aber das machte ihm nichts aus. In der Küche von Familie Laurin durfte er alles ausprobieren, was immer er wollte: Jedes Mitglied der Familie war längst glühender Fan seiner Kochkunst geworden.
»Nichts ›aber‹!«, sagte Leon energisch. »Sie nehmen gefälligst Urlaub und fliegen in die USA zu Lisa, um sich vor Ort ein Bild der Lage zu machen. Das ist auf die Entfernung unmöglich, Sie müssen dort sein, Simon, nur so können Sie feststellen, was Sache ist.«
Lisa war Simons jüngste Schwester, zwölf Jahre war sie jetzt alt, beim Tod ihrer Eltern war sie neun gewesen. Lisa war ein stilles Kind mit Schwierigkeiten in der Schule gewesen, traumatisiert vom Tod der Eltern, voller Angst, ihr könnten auch noch die Geschwister genommen werden, ihr großer Bruder Simon und ihre große Schwester Lili, die vier Jahre älter war als sie. Dann jedoch hatte sich überraschend herausgestellt, dass die drei Geschwister Verwandte in den USA hatten, in San Francisco: Dort lebte eine Cousine ihrer Mutter, Elisabeth Becker, mit ihrem Mann Fred und ihrem Sohn Oscar. Warum der Kontakt zu ihnen in der Vergangenheit völlig abgebrochen war, war eine lange, schwierige Geschichte, die sie erst später in allen Einzelheiten erfahren hatten.
Oscar jedenfalls war eines Tages in München aufgetaucht und hatte nach Simon, Lili und Lisa gesucht und sie schließlich auch gefunden. Bei einem später folgenden Aufenthalt der beiden Mädchen in San Francisco hatte sich vor allem Lisa sehr eng an Elisabeth Becker angeschlossen, die ihr viel von früher hatte erzählen können, vor allem natürlich von ihrer, Lisas Mutter, mit der Elisabeth in Jugendjahren eng verbunden gewesen war. Und so hatten die Beckers Simon einige Zeit später vorgeschlagen, dass Lisa für ein Jahr zu ihnen nach San Francisco kommen und dort auch zur Schule gehen sollte. Das Verrückte war nämlich: Lisa, die Schüchterne mit den schulischen Schwierigkeiten, hatte sich im amerikanischen Alltag und in der Sprache schneller zurechtgefunden als ihre ältere Schwester – und ihre starke Verbundenheit mit Elisabeth Becker, die so viel aus der Vergangenheit erzählen konnte, was Lisa nicht wusste, hatte ebenfalls dazu geführt, dass sie in kürzester Zeit viel selbstbewusster geworden war. Außerdem hatte sie sich geborgen und sicher gefühlt.
Sie hatten sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Lili und Simon waren natürlich voller Sorge um Lisa gewesen, hatten sich auch ein Leben ohne die kleine Schwester zunächst nur schwer vorstellen können. Lisa selbst hatte sich ausbedungen, dass sie jederzeit nach München