Main Data
Author: Caroline Wahl
Title: Windstärke 17 Der neue Roman nach ?22 Bahnen? | Nominiert für das Lieblingsbuch der Unabhängigen 2024 (Shortlist)
Publisher: DuMont Buchverlag
ISBN/ISSN: 9783755810032
Edition: 1
Price: CHF 10.70
Publication date: 05/15/2024
Content
Category: Contemporary literature (from 1945)
Language: German
Technical Data
Pages: 256
Copy protection: Wasserzeichen
Devices: PC/MAC/eReader/Tablet
Formate: ePUB
Table of contents
Ida hat nichts bei sich außer dem alten, verschrammten Hartschalenkoffer ihrer Mutter, ein paar Lieblingsklamotten und ihrem MacBook, als sie ihr Zuhause verlässt. Es ist wahrscheinlich ein Abschied für immer von der Kleinstadt, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hat. Im Abschiednehmen ist Ida richtig schlecht; sie hat es vor zwei Monaten nicht einmal auf die Beerdigung ihrer Mutter geschafft. Am Bahnhof sucht sie sich den Zug aus, der am weitesten wegfährt - auf keinen Fall will sie zu ihrer Schwester Tilda nach Hamburg -, und landet auf Rügen. Ohne Plan, nur mit einem großen Klumpen aus Wut, Trauer und Schuld im Bauch, streift sie über die Ostseeinsel. Und trifft schließlich auf Knut, den örtlichen Kneipenbesitzer, und seine Frau Marianne, die Ida kurzerhand bei sich aufnehmen. Zu dritt frühstücken sie jeden Morgen Aufbackbrötchen, den Tag verbringt Ida dann mit Marianne, sie walken gemeinsam durch den Wald oder spielen Skip-Bo, abends arbeitet Ida mit Knut in der »Robbe«. Und sie lernt Leif kennen, der ähnlich versehrt ist wie sie. Auf einmal ist alles ein bisschen leichter, erträglicher in Idas Leben. Bis ihre Welt kurz darauf wieder aus den Angeln gehoben wird.

CAROLINE WAHL wurde 1995 in Mainz geboren und wuchs bei Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr Debütroman>22 Bahnen< bei DuMont, für den sie mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis, dem Grimmelshausen-Förderpreis und dem Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Außerdem wurde>22 Bahnen< Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. Caroline Wahl lebt in Kiel.
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TEIL 1

Mit meinem MacBook im Rucksack, meinen Lieblingsklamotten in Mamas marineblauem Hartschalenkoffer, AirPods in den Ohren und der gefalteten Kündigung in der Bauchtasche trete ich aus dem Haus in der Fröhlichstraße 37, das nicht mehr mein Zuhause ist. Der Koffer rollt nicht richtig, der Griff ist nicht ausziehbar, und ich habe das Gefühl, einen Plastikklotz hinter mir herzuschleifen. Tragen ist zu schwer und meine Schulter noch verletzt von der Sache mit dem Schrank. Eigentlich würde ich am liebsten rennen und bereue, dass ich nicht meine große Schwimmtasche genommen habe, die ich immer benutze, wenn ich unterwegs bin. Aber ich musste mich entscheiden, und ich bereue sowieso stets jede Entscheidung, die ich treffe. Ich frage mich, von welchen Reisen der Koffer so abgewetzt ist. Mama hat ihn nie benutzt, seit ich da bin. Tilda war mit Mama und ihrem Vater mal mit dem Auto in Südfrankreich, da war sie zehn oder so. Aber davon wäre er ja nicht so beschädigt. Ich ziehe mein Smartphone aus der Bauchtasche.

Ich:Dieser marineblaue Koffer

Ich:Hat Mama den damals mit nach Frankreich genommen?

Tilda:?

Ich schicke ihr ein Foto.

Tilda:nein

Tilda:bist du unterwegs?

Tilda:wann kommst du an?

Tilda:ida, du kommst aber?

Tilda mit ihren tausend Fragen macht mich so wütend.

Ich bleibe stehen, bücke mich und schaue mir den Klotz noch einmal genauer an. Die rechte Rolle ist fast komplett abgenutzt. Viele bunte Kratzer auf der harten Schale. Mama hat mir nie von irgendwelchen Reisen erzählt. Ich habe sie auch nie gefragt. Einmal, als ich Schafskäse gebacken habe, wollte sie, wie so oft, nicht mitessen, weil sie keinen Hunger hatte und außerdem Schafszeugs hasste, seit sie mal Schafskopf gegessen hatte. Ich habe gefragt: Wo? Sie hat geantwortet: In Norwegen. Ich habe nicht gefragt: Wann?

Ich stelle mir vor, wie meine Mama, als sie noch keine Mama war, im Bahnhof von Bergen die Treppe heruntergerannt ist, zu einem Zug nach Oslo, vielleicht einem Bjorn oder Ragnar hinterher. Ihr Haar offen, braune Strähnen im Gesicht, ihre braunen Augen damals noch leuchtend voller Lebenslust. Ich stelle mir vor, wie sie »Stopp!« schreit, während sie den Koffer achtlos die Treppe hinunterzerrt, wie Ragnar sie gerade noch in den Zug hineinzieht, wie sie sich dann atemlos gegenüberstehen, an den Händen halten und Mama atemlos und laut lacht vor Glück. Wenn sie wüsste, was da noch auf sie zukommt. Aber sie weiß es nicht. Zum Glück. Ich frage mich, was aus Ragnar geworden ist. Wahrscheinlich hat er Enkelkinder und lebt mit seiner Frau Lagertha in so einem norwegischen roten Haus am See, wie sie auf den Covern von norwegischen Kriminalromanen stehen, vielleicht mit einer Hollywoodschaukel im Garten. Ob er sich an die Deutsche erinnern kann, mit der er einst einen Sommer verbracht hat? Ich frage mich, wie er reagieren würde, wenn ich ihm sagen würde, dass die achtzehnjährige Andrea nicht mehr lebt. Dass sie tot ist. Wahrscheinlich wäre es ihm egal, so wie einem das eben egal ist, wenn man sich ewig nicht gesehen hat. Egal, dass sie einfach nicht mehr da ist. Arschloch. Egal, dass Andreas Tochter Ida, die er gar nicht kennt und die ihm auch egal ist, aus der Wohnung flüchtet mit diesem alten, nicht richtig rollenden marineblauen Hartschalenkoffer, an den er sich nicht mehr erinnern kann und der ihm auch egal ist, und einfach alles zurücklässt.

Ich denke an die volle Wohnung, die ich zurücklasse, an die hässlichen Möbel, an meine Kiste mit Bildern, an meine Bücher, an Mamas Kleiderschrank, an ihre Klamotten in ihrem Kleiderschrank, an ihre Klamotten, die so lebendig nach ihr riechen, dass die Frau, der sie gehören, eigentlich nicht tot sein kann, nicht tot sein darf. Das süße Parfüm, die leichte Schweißnote, der Alkoholatem, das ist noch da, als würde sie sich im Schrank verstecken und das alles wäre nur ein großer Scherz. Es riecht so sehr nach Mama in ihrem Zimmer, dass ich alles zerschlagen könnte.

Bis zur Schlüsselübergabe muss ich das Zeug losbekommen. Drei Monate habe ich noch, und ich muss Tilda sagen, dass ich heute die Wohnung gekündigt habe.

Während ich die Fröhlichstr

 
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