: Martin Scherer
: Hingabe Versuch über die Verschwendung
: zu Klampen Verlag
: 9783866748927
: zu Klampen Essays
: 1
: CHF 9.80
:
: Essays, Feuilleton, Literaturkritik, Interviews
: German
: 104
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Immer wieder hören wir heute, dass Leidenschaft, Eros und Intimität im Verschwinden begriffen seien und wir in völlig entromantisierten Zeiten lebten. Der Wunsch nach unverbindlichem Matching habe die Suche nach dem Glück im und mit dem Anderen verdrängt. Martin Scherer lässt sich von solchen Befunden nicht beeindrucken. Stattdessen sucht er nach einem Gegengewicht zur Beliebigkeit unseres spätmodernen Zeitgeistes. Ein fast schon in Vergessenheit geratener Begriff, der für pure Anti-Ökonomie steht, soll ihn dabei leiten: Hingabe. Im Zustand der Hingabe verwandelt der Mensch sich in einen Liebhaber, der sich in einem Anderen verliert, um sich zugleich im bedingungslosen Erleben zurückzugewinnen. Auch wenn wir hier meist vor allem an Erotik denken, lässt sich Hingabe als tätige Verschwendung von Aufmerksamkeit, Zeit und Energie auch anderswo finden. Kunst und Wissenschaft etwa, aber auch die Sammelleidenschaft sind Paradebeispiele dafür. Es bedarf nur dieser einen paradoxen Stärke: für etwas schwach werden zu können.

Martin Scherer, 1966 in München geboren, studierte Philosophie, Psychologie und Alte Geschichte. Nach der Promotion arbeitete er im Journalismus, unter anderem als Kulturredakteur beim Magazin »Focus«. Von dort wechselte er in die Buchbranche und ist seit 2010 als Verlagsleiter tätig. Zuletzt ist von ihm erschienen »Der Gentleman. Plädoyer für eine Lebenskunst«.

Kassandras toter Winkel


DIE ersten Nachrufe beweisen noch kein Ableben. Das lässt hoffen für die Liebe. Aber auch für all ihre Begleiterscheinungen, Facetten und Spielarten.

Das Theater kennt den Einsatz der Mauerschau. Von oben herab schildert ein Beobachter dramatische Geschehnisse, die dem direkten Sichtfeld des Publikums verborgen bleiben. Oftmals ist es die Drohkulisse einer herannahenden feindlichen Heerschar, die bei den gebannt Lauschenden für Unbehagen sorgen soll. An dieses Stilmittel mag sich erinnert fühlen, wer aktuelle Beschreibungen der Gesellschaft studiert. Es scheinen böse Mächte am Werk, die gerade eine Urfähigkeit des Menschen auslöschen. Unüberhörbar beklagen diverse Zeitkritiken das Verschwinden von Leidenschaft, Eros und Intimität. All das aber sind Beinamen der Liebe, und eben diese soll vom Aussterben bedroht sein. Die Soziologin Eva Illouz, der Publizist Sven Hillenkamp, die Philosophen Peter Trawny und Byung-Chul Han scheinen einig in der Diagnose, die letzterer wie folgt pointiert: »Die vom Können beherrschte Leistungsgesellschaft, in der alles möglich, alles Initiative und Projekt ist, hat keinen Zugang zu Liebe als Verletzung und Passion.«1

Leben wir Heutigen also in Zeiten, die sich von aller Leidenschaftlichkeit entfremdet haben? Reduziert sich die reale Ordnung auf Nutzen, Taktik, Kalkül und Vorteilssucht? Schenkt man den Diagnosen etwa der Genannten Glauben, so erleben wir gerade eine Art psychosoziale Zeitenwende. Unsere Emotionen, eigentlich eine Sphäre verlässlicher Unberechenbarkeit, scheinen plötzlich in den Fängen der Krake Kapitalismus. Lust reimt sich auf Gewinn. Das vormals innerste Bedürfnis, die Suche nach Glück und Erfüllung im Anderen, schrumpft auf die Unverbindlichkeit einesMatching. Das Bett ist nur noch eine Börse.

Für diesen Befund spricht zugegeben einiges. Es scheint, als sei die Liebe tatsächlich nur das Licht eines erloschenen Sterns. Eva Illouz, die wohl bekannteste und einflussreichste Vermesserin der gegenwärtigen Liebeslebensverhältnisse, sieht nicht nur unser Handeln und Bewusstsein den Gesetzen der Marktwirtschaft unterworfen, sondern auch unser Sehnen und Fühlen. So luzide ihre Analysen zum Einfluss von Ökonomie und Massenmedien auf die emotionale Biographie ausfallen, so vehement kritisiert sie die manipulativen Absichten hinter den vielfältigen Offerten und Produkten der Psycho-Industrie. Romantik und Begehren waren gestern, heute regiert auf den digitalen Liebes- und Sexualmärkten das freie Spiel von Angebot und Nachfrage.2 Die Zeitgenossen quält dementsprechend die chronische Unsicherheit ob des je eigenen Marktwertes. Kein Werther mehr, nirgends. Stattdessen Bluffer und Profiloptimierer zuhauf. Die Kolumbusfahrt zur großen Liebe fällt wegen kompletter Windstille aus.

In dieses Panorama passen auch bizarre Phänomene auf dem Feld der Partnersuche. Zum Beispiel jene Veranstaltung, die eine der Feingeistigkeit unverdächtige Psychologin ersann und gegenwärtig äußerst erfolgreich in singlereichen Großstädten exerziert. DieMatching-Party basiert auf einer dubiosen Typenlehre. Ein sogenannter extrovertierter, konkreter, organisierter Fühlentscheider etwa erhält einen Button in einer bestimmten Farbe, um dann Ausschau nach einer gleichfarbig geschmückten Maid zu halten. Das Axiom dahinter, so lässt die Veranstalterin wissen, lautet: Jeder ist beziehungsfähig, am besten allerdings mi