1. Kapitel
Nicole ließ den Blick über die Ostsee schweifen, die heute türkisfarben leuchtete. Sie schloss die Augen, atmete tief ein und spürte die Wärme der Maisonne auf ihrer Haut. Ulf war seit fast sechs Wochen in der Reha-Klinik in Schönhagen. Die erste Zeit hatte sie ihn vermisst, aber mittlerweile hatte sie sich an das Alleinsein gewöhnt und genoss es sogar. Am kommenden Donnerstag würde er allerdings entlassen werden, und obwohl es für sie bestimmt auch eine Umstellung werden würde, freute sie sich darauf.
Sie zog die Beine an ihren Körper und blinzelte. Ein junges Paar – sie schätzte das Alter der beiden auf Anfang dreißig – lief Hand in Hand an ihr vorbei über den Sandstrand. Die Frau trug ein kurzes geblümtes Sommerkleid und hielt ihre Sandalen in der rechten Hand. Die langen blonden Haare flatterten im Wind. Sie stupste ihren Partner, der einen maisgelben Sonnenschirm über seine Schulter gelegt hatte, in die Seite, woraufhin er stehen blieb, sie an sich zog und mit einem Lächeln betrachtete.
Was für ein schönes Paar, schoss es Nicole durch den Kopf. Wann hatte Ulf sie das letzte Mal so verliebt angesehen? Sie versuchte, sich zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. Sie biss sich auf die Lippe, weil sie sich plötzlich undankbar vorkam. Kommenden Samstag wären sie elf Jahre zusammen, und sie hatten viele schöne Momente miteinander erlebt. Sie hatten sich auf einer Scheunenparty in Thumby kennengelernt. Er war ihr sofort in der Menge der Feiernden aufgefallen, einganzer Kerl, hatte sie damals gedacht, und als er sie gegen Mitternacht zum Tanzen aufgefordert hatte, hatte sie nicht eine Sekunde gezögert. Nicole ließ sich mit geschlossenen Augen in die Bilder ihres Kennenlernens fallen: ihr erstes Date hier am Weidefelder Strand, dann ein Kinobesuch und schließlich der erste Kuss im Auto, als er vor dem Mietshaus in Kappeln, in dem sie gelebt hatte, hielt und sie einfach nicht gehen lassen wollte, bis sie ihn mit nach oben in ihre Wohnung nahm.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne und gleichzeitig frischte der Wind auf. Nicole rieb sich die Oberarme, schlüpfte in ihre Sneakers und holte ihren Pullover aus dem Rucksack. Als sie sich fertig angezogen hatte, schlenderte sie zum Wasserrand und blieb dort stehen. Sie konnte sich nie sattsehen an dem Meer, das sich bis zum Horizont vor ihr ausbreitete. Kleine Schaumkronen hatten sich auf den Wellen gebildet, und zwei Möwen kreisten nur wenige Meter von ihr entfernt über dem jetzt grünblauen Wasser. Sie war immer wieder fasziniert davon, wie sich die Farbe der Ostsee von einem Moment auf den anderen komplett verändern konnte. Nicole hatte einmal gelesen, dass dies unter anderem von der Farbe des Meeresbodens, der Klarheit des Wassers und der Sonneneinstrahlung abhing. Sie fingerte ihr Handy aus der Seitentasche ihrer Jeans, weil sie ein Foto machen wollte.
Nicole runzelte die Stirn, denn in der Zwischenzeit waren zwei WhatsApp-Nachrichten eingegangen. Sie spürte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog, als sie die Worte ihrer Mutter überflog:Freitag in zwei Wochen wird um 10 Uhr meine Chaiselongue geliefert! Sie ließ den Zeigefinger über das Display gleiten. Am liebsten hätte sieKeine Zeit geschrieben, aber stattdessen antwortet sie mit:Okay! Nur wenige Sekunden später sah sie, dass ihre Mutter online war und ihre Antwort las, aber keine Reaktion sendete. Nicole biss sich auf die Lippe, wartete noch kurz und klickte dann die Nachricht ihrer Chefin an. Ulli bat sie, morgen schon um sieben Uhr zu kommen, da sie kurzfristig einen Termin bei ihrem Steuerberater habe. Nicole schrieb:Kein Problem, woraufhin Ulli ihr einen Smiley sendete.
Nicole arbeitete seit fast acht Jahren auf dem Strandrosenhof in Brodersby, und sie konnte sich keinen besseren Job vorstellen, auch wenn sie nach ihrem mittleren Schulabschluss zunächst ganz andere Pläne gehabt hatte. Damals hatte sie jeden Tag gemalt und gezeichnet und davon geträumt, Illustratorin zu werden, aber ihre Mutter hatte auf eineranständigen Ausbildung zur Hauswirtschafterin b