: Dieter Wellershoff
: Der verstörte Eros Zur Literatur des Begehrens
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462300864
: 1
: CHF 9.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dieter Wellershoff folgt der Darstellung von Liebe und Leidenschaft, Verführung und Ehebruch in exemplarischen Werken der Literatur der letzten zweihundert Jahre, wobei er das Werk und die jeweilige Lebensgeschichte der Autoren, von Goethe bis Houllebecq, spannend und hellsichtig miteinander verknüpft. Die klassischen Themen Liebe und Leidenschaft, Verführung und Ehebruch haben in den großen Romanen und Erzählungen der letzten zweihundert Jahre einen Ausdruck gefunden, der deutlicher als alle anderen Zeugnisse einen tiefgreifenden Wandel erkennen lässt. In immer neuen Schüben wurde die Bindung des Begehrens an Rituale und seine Kanalisierung durch Ehe und Moral von dem Wunsch nach uneingeschränkter Erfüllung gesprengt. Doch das Glück, das in diesem Prozess versprochen war, scheint immer weniger zu gelingen. In seinem neuen Buch, das ihn in gleicher Weise als brillanten Literaturkenner und Menschenbeobachter ausweist, folgt Dieter Wellershoff an beispielhaften Werken der Spur des Begehrens in der Literatur von Goethes Leiden des jungen Werthers bis zu Michel Houellebecqs Elementarteilchen. Er verbindet in vielfältiger wechselseitiger Spiegelung Werk, individuelle Lebensgeschichte und Zeitgeschichte und lässt die Autoren und ihre Darstellung des Sexuellen, ihre Obsessionen und Verstörungen nah und anschaulich vor uns erstehen, von Stendhal bis Henry Miller, von Marcel Proust bis D.H. Lawrence: Literatur mit Bodenhaftung und Liebende im trügerischen Licht der Illusion.

Dieter Wellershoff, geboren am 3. November 1925 in Neuss, starb am 15. Juni 2018 in Köln. Er schrieb Romane, Novellen, Erzählungen, Essays und autobiographische Bücher, z.B. »Der Ernstfall«, 1995, über seine Erfahrungen im 2. Weltkrieg. Wellershoff hielt poetologische Vorlesungen an in- und ausländischen Universitäten, zuletzt in Frankfurt a.M. Er erhielt u.a. den Hörspielpreis der Kriegsblinden, den Heinrich-Böll-Preis, den Hölderlin-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik. Übersetzungen erschienen in bisher 15 Sprachen. Das Werk von Dieter Wellershoff ist bei Kiepenheuer& Witsch erschienen.

3.Aufstieg eines Außenseiters


Stendhal: Rot und Schwarz. Bekenntnisse eines Egotisten. Leben des Henri Brulard • Über die Liebe.

Während sich Goethe gegenüber jüngeren deutschen Autoren wie Kleist, Hölderlin, Jean Paul, die er als »forcierte Talente« bezeichnete, verschloß, hatte er ein bleibendes Interesse für die zeitgenössische französische und englische Literatur. Von seiner Schwiegertochter Ottilie ließ sich der Achtzigjährige bald nach dem Erscheinen Stendhals Roman »Rot und Schwarz« vorlesen. Eckermann notierte dazu am 31. Januar 1831 einige abwägende Äußerungen Goethes: »…  Wir sprachen über ›Le Rouge et le Noir‹, welches Goethe für das beste Werk von Stendhal hält. ›Doch kann ich nicht leugnen‹, fügte er hinzu, ›daß einige seiner Frauencharaktere ein wenig romantisch sind. Indessen zeugen sie alle von großer Beobachtung und psychologischem Tiefblick, so daß man dem Autor einige Unwahrscheinlichkeiten des Details gern verzeihen mag.‹«

Unter dem Begriff »romantisch« faßt Goethe die exzentrischen Züge von Stendhals Romanpersonen zusammen, ihre von inneren Widersprüchen zerrissene Leidenschaftlichkeit, ihr sprunghaftes, unvorhersehbares Verhalten. Deutlicher noch als bei den meisten Autoren kann man in Stendhals Romanfiguren Projektionen von Charakterzügen ihres Autors sehen. Stendhal, der mit bürgerlichem Namen Henri-Marie Beyle hieß, war ein hochgespannter, extremer Charakter – ein ehrgeiziger Einzelgänger, stolz und erregbar, in Gesellschaften unterhaltsam, aber mit Anfällen von Schüchternheit, ein Kunstliebhaber und ein Erotiker, der sich ständig verliebte, nicht selten ohne Gegenliebe zu finden, und ein Mann, der im Bewußtsein seiner Häßlichkeit eine Zeitlang zu einem hochstaplerischen Dandytum und dann wieder zu vorübergehendem Rückzug neigte, alles in allem ein von den Zeitläuften umgetriebener unruhiger Geist und Skeptiker, der nach Idealität strebte, aber die Gesellschaft der französischen Restaurationsepoche mit illusionslosem Realismus zeichnete. Mit diesen teils bizarren Persönlichkeitszügen ist er eine markante Figur der dramatischen Übergangszeit zwischen dem endenden 18. und den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.

Stendhal war noch im Ancien régime geboren, das in seinem Elternhaus länger nachwirkte. Wie er in seinem Erinnerungsbuch »Bekenntnisse eines Egotisten« schreibt, hatte er die Sitten der Marquise de Merteuil noch erlebt. Denn er kannte das Urbild der Gestalt aus den »Gefährlichen Liebschaften«. Es war eine Madame de Monmort, eine reiche, hinkende alte Dame, die als eine Nachbarin der Familie Beyle bei Grenoble auf ihrem Landsitz residierte und dem Nachbarskind manchmal eine eingemachte Nuß geschenkt hat. Choderlos de Laclos, den berühmten Autor der »Gefährlichen Liebschaften«, lernte Stendhal später als napoleonischen Artilleriegeneral in Mailand kennen und machte ihm Komplimente zu seinem Buch. Seine Jugend erlebte Stendhal vor dem fernen Hintergrund der Französischen Revolution. Seine geliebte Mutter, die nach ihm noch zwei Mädchen geboren hatte, starb im Kindbett, als er sieben Jahre alt war. Damit »ging alles Glück meiner Kindheit zuende«, schrieb er noch fünfundvierzig Jahre später. Er behielt die Erinnerung an innige Zärtlichkeiten mit der Mutter und an den sekundenlangen Anblick ihres Schoßes, als sie »leicht wie ein Reh« über eine Matratze hinweggesprungen war, auf der er lag. Er haßte die jüngere Schwester seiner Mutter, die nach deren Tod den Haushalt führte, und dankte Gott auf den Knien für die Befreiung, als auch sie gestorben war. Seinen Vater, einen Advokaten, der ständig in Tränen ausbrach, als er seine Frau und dann seine Schwägerin verloren hatte, verabscheute er, vor allem, weil er ihn so häßlich fand. »Er hatte geschwollene Augen und die Tränen übermannten ihn unaufhörlich.« Da sein verachteter Vater Rousseau verehrte, fand Stendhal auch dessen Kult der Empfindsamkeit degoutant. Als Schüler besuchte er manchmal jakobinische Clubs, die in Grenoble allerdings wesentlich zahmer waren als in Paris. Seine Weltsicht war nicht moralisch, sondern ästhetisch bestimmt. Es war eine ästhetische Moral, in der Werte wie Schönheit, Kühnheit, Jugend und Eleganz die Rolle der führenden Tugenden spielten. Er war antibürgerlich und zutiefst antiklerikal, aber ein begeisterter Liebhaber der Kunst.

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