: Regina Raaf
: Verflochtene Leben
: tolino media
: 9783754601310
: 1
: CHF 6.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 289
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
An einem frostigen Wintermorgen, kurz vor der Jahrtausendwende, stand sie vor mir auf den Straßenbahnschienen. Sie lächelte mich an - dann ließ sie sich von mir überfahren. Seitdem ist nichts mehr so wie es einmal war. Meine selbst gewählte Mittelmäßigkeit ist dahin. Sie hat einem Abenteuer Platz gemacht, das eigentlich niemals hätte sein dürfen ... und für das ich ihr dennoch unendlich dankbar bin.

Regina Raaf lebt im Oberbergischen Land. Sie schreibt Bücher für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Prolog


Wir fühlen uns immer dann bestätigt, wenn wir so sind wie alle anderen. Denn wenn wir so sind wie der Rest der meisten Menschen, sind wir normal. Normal zu sein ist gut. Es ist das einzig Erstrebenswerte. Es sei denn, wir sind besser als die anderen. Berühmter, reicher, begehrenswerter – dann ist es durchaus reizvoll, aus der Norm zu fallen.

Ich war immer nur die Norm. Nicht besser, aber auch nicht viel schlechter als die anderen. Meine schulischen Leistungen waren nicht herausragend, jedoch auch nicht unterdurchschnittlich, und so ergriff ich einen normalen Beruf. Ich wurde Straßenbahnfahrer.

Es gab nicht viel Unvorhergesehenes in meinem Arbeitsalltag. Ich fuhr Leute von A nach B. Eigentlich dachte ich nicht einmal großartig an die Menschen, die auf die Straßenbahn angewiesen waren. Für mich war es immer eher die Bahn selbst, die ich von einem Ende der Stadt zum anderen bewegte. Ich richtete mich nach den Regeln, die ich gelernt hatte. Ich hielt, wenn das Haltesignal es mir anwies. Ich fuhr an, wenn die Türen nicht blockierten und sich vollständig geschlossen hatten. Ab und zu gab es Verspätungen, einmal einen Streik, bei dem ich froh war, als der ganze Spuk vorüber war, und ich meinen Dienst wieder geregelt aufnehmen konnte.

Alles war wie immer – bis zu diesem Tag, der meine Normalität auf den Kopf stellen sollte.

Ich möchte die Geschichte nun erzählen, da ich etwas Abstand zu all dem gewonnen habe. Und ich denke, es ist wichtig von den Ereignissen zu berichten, die ich damals selbst erlebte … und noch wichtiger, von denen, die ich im Anschluss daran erfuhr.

*

Es war an einem frostigen Wintertag im Jahre 1999. Das Millennium stand kurz bevor und man glaubte, dass die Welt vielleicht untergehen würde. Für mich tat sie das in gewisser Weise auch, allerdings etwas früher als vorhergesagt. Es lagen noch Reste des Schnees von vor zwei Tagen, aber er behinderte in keiner Weise den Fahrbetrieb. Meine Strecke führte über freies Feld und durch einige kleine Waldstücke, bis ich die nächste Station erreichen würde.

Ich sah nach vorne auf die Schienen und nahm am Rande die Bäume wahr, die an mir vorbeizufliegen schienen, dabei war ich es ja, der sich bewegte. Mein Kaugummi hatte schon seit mindestens einer Viertelstunde keinen Geschmack mehr, und ich überlegte mir, ob die Fahrgäste es wohl sehen würden, wenn ich ihn einfach aus dem Fenster spuckte. Würde sich jemand beschweren, wenn plötzlich ein ausgelutschter Kaugummi an seiner Scheibe vorbeiflog? Bestimmt nicht, also öffnete ich mit einer Hand das Fenster, während meine andere Hand am Hebel blieb, um die Geschwindigkeit ein wenig zu erhöhen.

Meinen Kopf drehte ich nach links, damit ich in hohem Bogen in den Fahrtwind spucken konnte. Eine Sekunde später befand sich der Kaugummi im Freiflug durc