Die Maus
Im Sommer steht die hohe Tür zwischen Wohnzimmer und Terrasse offen. Wer sie morgens öffnet, weiß Ruth nicht. Wahrscheinlich Pan Lersch, der ein Zimmer im Souterrain bewohnt, meistens als erster aufsteht, um den Ofen im Badezimmer zu heizen. Vielleicht auch Zdenka oder sogar Vater, der, wie er behauptet, nur eine Mütze Schlaf braucht. Und Ruth versucht vergeblich, sich den Schlaf in der Mütze vorzustellen.
Wenn es regnet, ist im Wintergarten gedeckt.
Lea trödelt morgens. Sie muß von Zdenka oder Mutter zur Eile gemahnt werden, im Bad, auf dem Flur. So kommt Ruth stets vor ihr zum Frühstück, hat längst ihren Platz am runden Tisch eingenommen, ehe Mutter und Lea erscheinen.
Vater begrüßt sie mit einem runden kaffeenassen Kuß auf die Stirn und fragt, wo Lea denn bleibe. Darauf hat sie nur ein Mal Auskunft geben müssen, meistens verschanzt sich Vater sofort hinter der Zeitung. Ruth zieht sich auf dem Stuhl hoch, läßt die Beine baumeln, holt tief Atem und genießt den Vorzug, mit Vater allein zu sein. Auch wenn die Zeitung ihn verbirgt.
Carlo, den älteren Bruder, bekommt sie morgens nie zu Gesicht. Er ist früh in die Schule aufgebrochen, frühstückt mit Zdenka und Pan Lersch in der Küche. Der große Bruder hat viel mehr Aufgaben und Pflichten als sie und Lea.
Sie mustert die mit Marmelade bestrichenen Semmelhälften auf ihrem und auf Leas Teller. Falls Leas Portion üppiger ausgefallen ist, kann sie jetzt noch tauschen.
Ein paar Mal hat Vater sie deswegen gerügt. Sie sei futterneidisch, ob sie sich nicht schäme?
Lea würde es an ihrer Stelle genauso machen.
Sie blieb hartnäckig. Vater gab nach.
Jedes Mal, wenn sie in die Semmel beißt, wundert sie sich, wie es in ihrem Kopf prasselt und kracht.
Im Dompark unter der Terrasse sind schon Spaziergänger unterwegs. Sobald Ruth nicht mehr kaut, kann sie Schritte auf dem Kies hören, kurze und lange, eilige und schleifende, und sie zerstört diese Musik, wenn sie von neuem in die Semmel beißt.
Lea läuft Mutter voraus, hüpft, die Hände in den Hüften abgestützt.
Ruth schaut nicht ihnen entgegen, sondern auf Vater, und weiß im voraus, was geschieht: Vater senkt die Zeitung, wirft einen Blick über den Rand, nickt, als wolle er Lea ermuntern, noch alberner zu hüpfen, legt die Zeitung über Teller, Tassen und Kanne, öffnet die Arme, und Lea springt ihm auf den Schoß. Jeden Morgen, wenn sie das tut, zieht Ruth sich zusammen und kneift die Augen zu.
Ja, Mädelchen, guten Morgen! Vater drückt Lea kurz an sich und hebt sie dann auf ihren Stuhl.
Mädelchen zu sein, ist das unerklärte Vorrecht Leas. Ruth bleibt immer Ruth, obwohl sie, denkt sie, mehr ein Mädelchen ist als die jüngere Schwester, viel feiner und zarter.
Nachdem Vater beschlossen hat, Lea und sie gemeinsam zur Schule zu schicken, und sie ungerechterweise ein Jahr warten muß, ist sie allerdings von Pan Lersch triumphal getröstet worden. Auf dem Gang hat er sie abgefangen, ihr zugeflüstert: Gräm dich nicht. Die Lea ist um ein Jahr blöder als du, und deswegen kannst du noch ein Jahr faulenzen. Ist das nichts?
Geht ihr Lea besonders auf die Nerven, wird sie von Vater unnötig bevorzugt, wie jetzt, denkt sie an Pan Lerschs Zauberspruch, der sie wunderbar stärkt: Die Lea ist um ein Jahr blöder als ich.
Lea, die ihr gegenüber sitzt, kichernd, das Kinn mit Marmelade beschmiert, hat davon keine Ahnung.
Die Eltern unterhalten sich, selten in ganzen Sätzen. Vater schaut nur ausnahmsweise über die Zeitung zu Mutter hin.
Ruth beobachtet sie dabei.
Mutter achtet darauf, daß sie genausoviel kaut, wie sie spricht.
Ich hab den Besuch – sagt Vater.
Die Breslauer? – fragt Mutter.
Wie kommst du auf die? – fragt Vater.
No ja, ich dachte – sagt Mutter.
Du irrst dich – sagt Vater.
Ja? – fragt Mutter.
Du hast es einfach vergessen – sagt Vater.
Möglich – sagt Mutter.
Der Indigofärber aus