Die Todgeweihten grüßen dich!
Man spürt den Tod, wie man den stechenden Blick eines Fremden zwischen den Schultern spürt, dachte Capitaine Roger Blanc. Er schlug den Kragen seiner Lederjacke hoch und sah sich unbehaglich um. Er fühlte sich wie im Innern eines Vulkans, dessen Krater allerdings einst von Menschen geschaffen worden war. Rings um ihn benetzte feiner Regen graue, altersschiefe Steine, die Reihe um Reihe gen Himmel wuchsen. Blanc stand erst seit ein, zwei Minuten zwischen den Sitzen inmitten des römischen Amphitheaters von Arles und wünschte sich doch schon wieder von hier fort.
In Arles hatten sich in der Antike Gladiatoren zum Vergnügen des Publikums bekämpft. Hier waren im Mittelalter Verbrecher auf alle erdenklichen Arten hingerichtet worden. Und heutzutage starben hier im Sommer schwarze Bullen bei den spanischen Stierkämpfen, die in Arles so selbstverständlich veranstaltet wurden, als würde die Provence immer noch dem König von Katalonien unterstehen. Die mürben Steine des Amphitheaters dünsteten Jahrhunderte des Todes aus.
Freitagnachmittag. Blanc verkroch sich tiefer in seine alte Lederjacke. Er zog sein Handy hervor und blickte auf das Display: 16. November, Punkt 16.00 Uhr. Der niedrige Himmel spannte sich über das hundert Meter weite Steinoval, grau und stumpf wie ein altes Tuch. Zwischen den steil ansteigenden Sitzreihen verloren sich nur wenige Besucher: Rentner aus Deutschland, Holland, Japan, Damen in grellvioletten Regenponchos und ihre Begleiter in himalajatauglichen Funktionsjacken, die ihre Spiegelreflexkameras gepackt hielten wie Faustfeuerwaffen. Als Blanc wenige Augenblicke zuvor über den Vorplatz gehastet war, die Hand am Schirm seiner Baseballcap gegen Windböen und Regenschauer, war er an einem langhaarigen jungen Gitarrenspieler vorbeigekommen, der unter einer Art Zelt hockte und schnelle Musik der Gitanes spielte, die er mit elektronischen Rhythmen aus einem Verstärker unterlegt hatte. Seine Melodien wehten bis in das antike Innere, ein seltsam deplatzierter Klang.
Und doch, dachte Blanc, trotz der eifrigen Rentner, trotz der leeren Steinstufen, der lächerlichen Musik, des Nieselregens: Man konnte im Amphitheater irgendwie noch immer die Hitze des Sommers ahnen, den flirrenden Sand der Arena, die Angstlustschreie der Zuschauer, den Geruch nach Blut.
Er wünschte, Aveline hätte einen anderen Treffpunkt vorgeschlagen.
Ein gestohlenes Wochenende in Arles: Der Flic und die Richterin, ein unter dem Allerweltsnamen »Dupont« reserviertes Hotelzimmer, Hoffnung auf ein paar Stunden Leidenschaft – ein schäbiger Ehebruch. Mehr als dreieinhalb Milliarden Frauen lebten auf der Welt, und keine war für ihn gefährlicher als Aveline Vialaron-Allègre. Blanc wusste nicht mehr, wie oft er sich schon geschworen hatte, ihre hoffnungslose Affäre zu beenden. Doch dann musste er bloß ihre Stimme im Handy hören oder bei einer zufälligen Begegnung auf den Fluren des Justizpalastes von Aix-en-Provence ihren Duft einatmen, und ihn schwindelte.
Das Novemberwochenende war wie ein unverhofftes Geschenk über Blanc gekommen. Avelines Mann war nicht, wie sonst oft, aus Paris in den Süden gekommen. Der Staatssekretär hatte rechtzeitig genug die Seiten gewechselt und sich Macrons neuer Partei angeschlossen. So war er einer der wenigen Politiker, der von der Flutwelle der Wahlen im Frühsommer nicht aus Ministerien und dem Parlament gespült worden war, im Gegenteil: Jean-Charles Vialaron-Allègre galt als einer der erfahrensten Köpfe der neuen Regierung und damit als graue Eminenz im Innenministerium. Nur beglich er dafür den Preis, den jeder entrichten musste, dessen Macht wuchs: Er bezahlte mit seiner Zeit. Vialaron-Allègre musste das ganze Wochenende über in der Hauptstadt mit dem Premier und dem Innenminister am Text eines neuen Antiterrorgesetzes feilen.
Da Aveline am Gericht gerade Ermittlungen gegen einen Islamisten führte, sollte sie ihre Ergebnisse am Montagmorgen im Innenministerium vortragen. Von Freitagnachmittag, wenn sie den Justizpalast in Aix-en-Provence verließ, bis Sonntagabend, wenn sie den Zug Richtung Paris besteigen würde, wäre Aveline deshalb, wie sie Blanc in einerSMS geschrieben hatte,»vom Radarschirm verschwunden«.
Sie hatte dieses Treffen vorgeschlagen: Arles lag gut vierzig Kilometer von ihrem Haus in Caillouteaux und Blancs heruntergekommener Ölmühle in Sainte-Françoise-la-Vallée entfernt. Nah genug, um rasch dort hinzufahren, aber nicht so nahe, dass sie fürchten mussten, dort einem Nachbarn oder Kollegen über den Weg zu laufen. Außerdem waren die Monumente von Arles bei Touristen so beliebt, dass selbst an düsteren Herbsttagen viele Besucher durch die Gassen strömten, genug jedenfalls, dass zwei Besucher mehr nicht auffielen. Und Arles hatte einenTGV-Bahnhof mit einer direkten Verbindung in die Hauptstadt. Erst am Sonnta