: Georg Christoph Lichtenberg
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: Belletristik
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Auszug: In der Ausnützung ihrer heimischen Literaturprodukte sind uns die Franzosen und Engländer unbedingt voraus. Es herrscht dort ein ganz anderes, viel regulierteres Verhältnis zwischen dem Schriftsteller und dem konsumierenden Publikum. Nichts bleibt unausgewertet, keine geistige Energie bleibt latent liegen, sondern sie wird allsogleich in neue Energieformen: in nationale, ästhetische, ethische, kulturelle Bewegungen umgewandelt. Die Gesellschaft hält das ganze Arbeitskapital ihrer geistigen Kapazitäten unter steter Beobachtung und sucht es sich so intensiv wie möglich zunutze zu machen.

Einleitung


In der Ausnützung ihrer heimischen Literaturprodukte sind uns die Franzosen und Engländer unbedingt voraus. Es herrscht dort ein ganz anderes, viel regulierteres Verhältnis zwischen dem Schriftsteller und dem konsumierenden Publikum. Nichts bleibt unausgewertet, keine geistige Energie bleibt latent liegen, sondern sie wird allsogleich in neue Energieformen: in nationale, ästhetische, ethische, kulturelle Bewegungen umgewandelt. Die Gesellschaft hält das ganze Arbeitskapital ihrer geistigen Kapazitäten unter steter Beobachtung und sucht es sich so intensiv wie möglich zunutze zu machen.

Diese beiden Länder haben einen viel größeren Verbrauch anKlassikern, als dies bei uns der Fall ist. Nicht als ob dort mehr bedeutende Köpfe hervorgebracht würden – es wäre viel leichter, das Gegenteil zu beweisen –, sondern es werden dort sozusagen viel mehr Genies »emissioniert«. Hat in Deutschland jemand etwas zu sagen, was eine neue Bedeutung enthält, so entwickelt sich sogleich im Publikum Mißtrauen in zweifacher Richtung; zunächst: ob dies nicht etwa schon ein anderer vor ihm gesagt habe, und sodann: ob es nicht etwa eine bloße Absurdität sei, ob die neue Wahrheit oder Tatsache nicht Widersprüche, Ungereimtheiten, Paradoxien enthalte (»paradox«, das ist ja das Lieblingswort des Deutschen). Da nun aber alle menschlichen Wahrheiten entweder uralt oder paradox sind (oder richtiger gesagt: stets beides zugleich sind), so ist jeder derartige Sprecher völlig hoffnungslos der Mißgunst der Kritik preisgegeben.

Andere Nationen sind nicht so vorsichtig. Sie fragen nicht lange, ob der neue Sprecher im Recht oder im Unrecht ist, ob er Vorgänger hat oder nicht, sondern sie nehmen seine Produkte hin, als bemerkenswerte Äußerungen einer hochgespannten geistigen Aktualität, als Bewegungszentren, die geeignet sind, dem Gange des öffentlichen Lebens neue Beschleunigungen zu erteilen; als etwas, das freilich erst im Laufe der Geschichte seinen angemessenen Platz erhalten wird, das aber zunächst unter jeder Bedingung gehört und aufgenommen werden muß. Und über den Streit der Partialmeinungen hinweg stellen sie die wenigen Persönlichkeiten, froh, sie zu besitzen, in ihre Nationalgalerie.

Der entgegengesetzte Prozeß ist in Deutschland nicht nur in der Aufnahme zeitgenössischer Autoren zu verfolgen. Auch zur Vergangenheit haben wir noch immer jene mißgünstige Haltung eines übergewissenhaften Lehrers, der nur widerstrebend gute Noten austeilt. Wir sind so ängstlich und behutsam in der Verleihung der Klassikerwürde, daß uns schließlich nur ein paar Bücher in den Händen geblieben sind, von denen die einen heute ganz tot und die anderen so zerlesen, abgegriffen und von der Mikrologie zerschabt sind, daß sie für uns jeden Geschmack verloren haben. Die geistige Bedürfnislosigkeit des deutschen Publikums ist derzeit erschreckend. Es gibt wenig gebildete Franzosen, die mit Vauvenargues, Chamfort, Labruyère und vielen anderen, die kaum dem Namen nach zu uns gedrungen sind, nicht eingehend ver