: Heinrich Mann
: Der Atem
: Books on Demand
: 9783752639155
: 1
: CHF 2.40
:
: Hauptwerk vor 1945
: German
: 527
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Frau fiel auf, aber sie bemerkte es nicht. Von weitem wirkte ihr Anzug prunkhaft, wenn auch altertümlich. Kenner bemerkten: die Mode von 1910. Eine Welt liegt zwischen ihr und der Tracht von 1939. Kam die Passantin näher, erwies das seidene Schleppkleid sich als ermüdet, die Spitzen des Umhanges als sorgfältig zusammengenäht. Nur die Schuhe waren neu, sogar kostbar. Die Strümpfe hatten, sooft die Person genötigt war, den Rock aufzuheben, eine Masche verloren. Dies war die Erscheinung am frühen Morgen, als wenige sie sahen. Sie ging, heute und täglich, entschlossen ihres Weges. Sie wendete niemals den Kopf. Alles sprach dafür, daß sie ein bekanntes Ziel verfolgte. Sie tat es mit Augen gleichgültig und leer. Die Stadt Nice an der Côte d'Azur hat einige sehr lange Straßen. Ob man aus dem Mittelpunkt oder, wie diese Einzelne, von draußen kommt, die rue de France verliert sich in der Ferne. Nach dem Ende, das außer Sicht, daher kein Ende war, blickte die Auffallende, nichts konnte sie ablenken. Ereignisse der Straße überging sie. Um so weniger Beachtung erreichten die seltenen Begegnenden, die unter den weitläufigen Hut spähten. Seine Federn hingen geknickt. Da sie mittags unweigerlich zurückkehrte, kannte die Straße sie, wie ein zugehöriges Vorkommnis. Eine Frage war es nicht mehr, ob das kleine blasse Gesicht mit der zu feinen Nase noch immer den unbegründeten Hochmut ausdrückte. Man wußte Bescheid. Mehr als ihre verspäteten Gewänder forderte ihr stolzer Anstand die Überlegenheit der Leute heraus. Übrigens unterscheiden sie schwer die Verlassenheit vom Dünkel. Indessen haben sie ein untrügliches Gefühl für die Ausnahmen. Diese veranlassen nicht immer Hohn. Die Leute lachen wohl, aber auf zivilisierte Art nach innen. Wie es ihnen eigentlich ergeht - nicht so einfach, ein unruhiger Respekt vor der Ausnahme spricht auch mit - das könnten die Gesichter zeigen. Aber sie, die es angeht, fühlt sich nicht betroffen, sie ist so gut wie abwesend. Sollte sie, ohne daß es den Anschein hat, aufmerken, vielleicht hätte sie gerade Unglück und fände in einer Miene, was ihr ganz anders nahegehen müßte als Mißachtung oder sogar eine bedingte Huldigung. Das war das Mitgefühl, das selten auftrat, aber es zeigte sich. Der peinlichen Begegnung mit dem Erbarmen wich sie ohne Absicht aus. Es war, was sie am wenigsten bemerkte. Das Verheimlichen hört notwendig auf, wenn die Selbstbeaufsichtigung aussetzt. Eine andere Frau hat es heute gesehen. Es war sehr früh am Tage, die ...

Heinrich Mann lebte von 1871 bis 1950 und war ein deutscher Schriftsteller.

nichts konnte sie ablenken. Ereignisse der Straße überging sie. Um so weniger Beachtung erreichten die seltenen Begegnenden, die unter den weitläufigen Hut spähten. Seine Federn hingen geknickt.

Da sie mittags unweigerlich zurückkehrte, kannte die Straße sie, wie ein zugehöriges Vorkommnis. Eine Frage war es nicht mehr, ob das kleine blasse Gesicht mit der zu feinen Nase noch immer den unbegründeten Hochmut ausdrückte. Man wußte Bescheid. Mehr als ihre verspäteten Gewänder forderte ihr stolzer Anstand die Überlegenheit der Leute heraus. Übrigens unterscheiden sie schwer die Verlassenheit vom Dünkel. Indessen haben sie ein untrügliches Gefühl für die Ausnahmen. Diese veranlassen nicht immer Hohn.

Die Leute lachen wohl, aber auf zivilisierte Art nach innen. Wie es ihnen eigentlich ergeht – nicht so einfach, ein unruhiger Respekt vor der Ausnahme spricht auch mit – das könnten die Gesichter zeigen. Aber sie, die es angeht, fühlt sich nicht betroffen, sie ist so gut wie abwesend. Sollte sie, ohne daß es den Anschein hat, aufmerken, vielleicht hätte sie gerade Unglück und fände in einer Miene, was ihr ganz anders nahegehen müßte als Mißachtung oder sogar eine bedingte Huldigung. Das war das Mitgefühl, das selten auftrat, aber es zeigte sich. Der peinlichen Begegnung mit dem Erbarmen wich sie ohne Absicht aus. Es war, was sie am wenigsten bemerkte.

Das Verheimlichen hört notwendig auf, wenn die Selbstbeaufsichtigung aussetzt. Eine andere Frau hat es heute gesehen. Es war sehr früh am Tage, die abgeladenen Marktwagen rollten bis jetzt allein und mit Lärmen ihren Heimweg aus der Stadt. Die Inhaberin einer angesehenen Bäckerei, Madame Vogt, schloß eigenhändig ihren Laden auf. Nur was man selbst besorgt, ist pünktlich getan. Sie hatte hinter sich mehr als vierzig, wenn sie genau sein wollte, siebenundvierzig Jahre; davon ein Drittel unschuldig, die reichliche Mitte unbesonnen, dann die gediegen bürgerlichen Jahre, deren sie schon fünfzehn zählte. Sie war genau unterrichtet, wenn eine Bekannte aus ihrer mittleren Zeit im gleichen Alter stand.

Diese war reich gewesen, und unbesonnen nur aus Laune, das heißt, verrückt schon damals, mindestens piquée. »Da ist sie wieder«, sagte Vogt, als der Federhut in Sicht kam. Die Mühe geringschätzig zu lächeln unterließ sie nachgerade. »Wohin Kobalt will, weiß sie nicht. Unsereiner dagegen kann höchstens erraten, was sie seit gestern getrieben hat, da sie von Mittag bis nächsten Morgen aus dem Verkehr verschwindet. D’ailleurs, ce sont les cadets de mes soucis.« Hiermit schloß sie den beiläufigen Gedanken oder glaubte, damit fertig zu sein, während der eiserne Vorhang, den sie losmachte, polternd nach oben fuhr.

Das Geräusch verfehlte jede Wirkung auf Dame Kobalt, eigentlich Kovalsky, wie Madame Vogt aus alten Zeiten wußte. Von den langen Schatten des Morgens umgeben, die mageren Schultern manchmal von Sonne gestreift, näherte sie sich wie – die Bäckerin wollte nicht sagen »wie ein Gespenst«. Der Eindruck erklärt sich: der Gehsteig ist völlig unbenutzt; im Augenblick erschüttern keine Lastfuhrwerke die verschlossenen Häuser, grüne Jalousien vor allen Fenstern. Wenn späterhin das Gedränge der Straße, die Person zum Ausweichen nötigen wird, bleibt im Grunde nichts an ihr zu beachten. »Einer anspruchsvollen Armseligkeit sollte man nicht den Gefallen tun hinzusehen«, meinte die Bürgersfrau.

»Jedem, wie er es gewollt hat!« meinte sie weiter und ging daran, auch die Glastür zu öffnen, unterbrach sich aber, da Kobalt stehenblieb. »Sie bleibt niemals stehen. Wird sie mich ansprechen? Das wäre!« Es war auch nicht dies, was die Genannte im Sinn hatte. Sie hielt den Schritt nur an, um den Kopf vornüberzuneigen und leise zu stöhnen. Ihre rechte Hand verschwand unter dem Hutrand, der vom Alter ermüdet über das halbe Gesicht klappte.

Vogt hatte gleichwohl die Hand überrascht. Immer noch schmal und weiß, sah Vogt. Ausnahmsweise entblößt, sah sie; lang daneben baumelte ein schadhafter Handschuh. Soviel von dem kleinen blassen Gesicht unter der Bedeckung sichtbar blieb, bebte es, schwach, aber nicht stillzuhalten. Vogt hätte am wenigsten geglaubt, gerade mit diesem unbeherrschten Mund werde Kobalt sprechen. Niemals sprach sie, das war ein Zug ihrer Maskerade; nur jetzt, nach geschehenem Stöhnen, mitten im Zittern mußte sie, deutlich genug, aussprechen: »Oh, mein Kopf.«

Vogt erschrak – ohne daß es sie gewundert hätte, wenn einer Verrückten der Schädel weh tat. Über die Stimme war sie erschrocken. Die Stimme Kobalts hatte sich nicht verändert in aller der Zeit, daß sie nicht mehr gehört wurde, außer von Zudringlichen und dann nur einmal. Die Stimme schwankte, schien umschlagen zu wollen; wie früher aber hielt sie ihren Klang, der von innen bereichert wurde, aus der Brust, im Gru