Eine lange Nacht – Teil 1
von Henry Bienek, Nadine Muriel und Stefan Cernohuby
Martin trat heftig auf die Bremse. Das Reh, das mitten auf der Straße stand, schien ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen, ehe es ins Gebüsch sprang und sofort wieder von der pechschwarzen Finsternis des Waldes verschluckt wurde. Verdammt, das war knapp! Obschon Martin ein geübter Autofahrer war, umkrallte er das Lenkrad wie ein Schiffbrüchiger eine Planke. Die Straße war eine Aneinanderreihung von Haarnadelkurven, noch dazu völlig unbeleuchtet. Die Leute vom Straßenbauamt, die für diese Strecke zuständig waren, mussten ausgesprochene Sadisten sein – genau wie sein Chef, der ihm den heutigen Kundentermin am anderen Ende der Republik zugeteilt hatte.
Das Geschäftsgespräch war zwar überraschend gut gelaufen, doch inzwischen wurde Martins Freude darüber von bleierner Müdigkeit erdrückt. Es war zehn Uhr nachts und er wollte nur noch heim. Bloß deswegen war er ja von der Autobahn abgefahren, um die deutlich kürzere Strecke durch den Odenwald zu nehmen. Eine Entscheidung, für die er sich inzwischen am liebsten ohrfeigen würde. Martin hatte keine Ahnung mehr, wo er sich befand, und seinem Handy, das er für das GPS verwendet hatte, war schon vor Stunden der Strom ausgegangen. Nun rollte er durch eine ihm unbekannte düstere Waldlandschaft. Wenn sich hier nicht Fuchs und Hase gute Nacht sagten, dann wusste er nicht, wo …
Martin hätte laut vor sich hin geflucht, wenn er nicht selbst dafür viel zu erschöpft gewesen wäre. Er merkte, wie ihm hinter dem Steuer langsam die Augen zuzufallen begannen. Die ungewohnte und kurvenreiche Gegend hielt seine Nerven momentan noch auf Trab und zwang ihn, sich zu konzentrieren. Aber wenn das so weiterging, würde er wohl eine Parkbucht im Wald ansteuern müssen, um sich dort ein paar Stunden aufs Ohr zu hauen.
Doch nach der nächsten Kurve tauchte am Horizont ein großes Haus auf, das in rotem und weißem Licht regelrecht gebadet wurde. Eine ausgeleuchtete Einfahrt führte direkt bis zur großen Eingangstür. Mit einer Übernachtungsmöglichkeit rechnete Martin zwar nicht, nichtsdestotrotz bremste