PROLOG
Iris
1965
Der Weg in ein magisches Reich wird stets durch ein Hindernis versperrt. Wer Einlass begehrt, muss ein Rätsel lösen oder ein Opfer bringen. So viel war dem kleinen Mädchen bereits klar. Aber sie vermutete, dass ihre Mutter diese schwierige Aufgabe für sie übernommen hatte, bevor sie diesen zauberhaften Ort betreten konnten. Jedes Mal, wenn sich die eisernen Pforten unter lautem Quietschen öffneten, hatte sie das Gefühl, ihr würde eine große Gunst zuteil. Hätte sie an diesem Tag gewusst, dass sie den Garten zum letzten Mal betrat, hätte sie sich womöglich dagegen gewehrt. Vielleicht hätte die Kleine sich zu Boden geworfen, um ihre Finger in der Erde zu vergraben, bis sie so starke Wurzeln schlug, dass selbst der böse König sie nicht so leicht hätte lösen können. Aber sie ahnte nichts und streifte mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen an den Sträuchern und Blumen vorbei. Dabei fühlte sie nichts als Wärme. Die kräftige Junisonne schien auf ihr Gesicht und die Hand der Mutter barg die ihre. Das Mädchen bemühte sich, die Finger ihrer Mutter nicht mit einem zu festen Griff zu umschließen, weil sie befürchtete, diese würde ihr dann wie ein flirrendes Feenwesen davonflattern. Dabei wirkte die Frau an ihrer Seite im Garten irdischer als anderswo. Ihr Gang wurde aufrechter, der Teint strahlte und die Lippen öffneten sich zu einem gelösten Lächeln. Im Haus konnte man ihre ewige Sanftheit leicht mit Gleichgültigkeit verwechseln, doch unter freiem Himmel verwandelte sie sich in etwas Zärtliches. Die Mutter kniete sich hin, um ihrem Kind ein kunstvoll gemasertes Blatt oder eine Blüte mit ungewöhnlichem Farbverlauf zu zeigen. Die Kleine entschied, dass sie es wagen konnte, sich für den Moment eng an ihre Mutter zu schmiegen, ohne sich darum zu sorgen, sie wie sonst oft zu wecken und möglicherweise zu verscheuchen.
Sie spürte den warmen Atem ihrer Mutter auf ihrem Haupt, bevor diese liebevoll ihren Scheitel küsste. »Mein kleiner Schatz«, wisperte sie.
»Erzählst du es mir noch mal?«, fragte das Mädchen fröhlich. Sie deutete auf die weißen Schwertlilien, die noch einen anderen Namen trugen, Iris – der Name des Mädchens. Die kleine Iris wusste bereits, dass die Farbe dieser Blüten etwas ungewöhnlich war. Sie hatten einen warmen Cremeton statt der üblicheren blauen Farbe, und es schmeichelte Iris, nach einer so hübschen Blume benannt worden zu sein. »Erzählst du mir noch mal, warum du mich so genannt hast?«
Ihre Mutter Isabelle schaute sie beinahe wehmütig an. »Sie ist ausdauernd und ehrlich. Und ich habe mir gewünscht, meine Tochter wäre auch so.«
Überrascht blickte Iris auf. Dies war nicht die Geschichte, nach der sie gefragt hatte. Später würde sie daran denken, dass ihre Mutter an diesem Tag selbst im Garten ihre Melancholie nicht ganz abgelegt hatte, und