Prolog
Oktober 1987
Das Erste, was ihm auffällt, ist die Kälte. Wenn er aus dem Garten ins Haus kommt, begrüßt ihn immer ein Schwall warmer Luft an der Tür, es ist, als würde er in einen Bausch Watte laufen. Heute aber ist da keine Watte. Das ist die erste Enttäuschung. Draußen – drinnen, falls es da überhaupt einen Temperaturunterschied gibt, ist er so geringfügig, dass er ihn nicht registriert. Jedenfalls reicht er nicht aus, um seine Finger aufzutauen, die, rosa gefärbt, rohem Fleisch ähneln. Er atmet tief ein. Hat er etwa das Mittagessen verpasst? Die Küchenuhr verrät ihm, dass das der Fall ist, denn es ist bereits nach drei. Worauf er jetzt Lust hätte, wäre die Hühnersuppe seiner Mutter, mit einem ordentlichen Stück von dem Brot, das sie gestern zusammen gebacken haben. Er würde so dick Butter darauf streichen, dass ein Abdruck seiner Zähne zurückbleibt, wenn er hineinbeißt. Oder einen frischen Pfannkuchen. Die mag er auch sehr, aber er schätzt seine diesbezüglichen Chancen nicht sehr hoch ein. »Wenn du diesen Müll isst, wirst du nicht so groß wie dein Dad«, sagt sie, worauf er stets dasselbe zur Antwort gibt: »Kein Problem für mich«, denn im Grunde will er seinem Vater möglichst wenig ähneln.
Heute riecht er aber gar nichts. Nicht einmal Käse auf Toast, der unter dem Grill Blasen wirft.Sag bloß, es gibt Sandwiches, denkt er und verbucht seine zweite Enttäuschung. Er war den ganzen Vormittag mit Christopher und Jamie von gegenüber auf der Wiese draußen, wo sie einen Unterschlupf gebaut haben. Sie haben eine weggeworfene Holztafel dafür verwendet, die sie an die Esche gelehnt haben, sowie drei alte Kissen aus dem Schuppen und eine Plane, die er im Garten gefunden hat. Ein Sandwich stellt dafür wohl kaum eine angemessene Belohnung dar.
Auch dass es so still ist, kommt ihm merkwürdig vor. Total unheimlich. Sonst ist es hier nie still. Jedenfalls nicht so still. Die meiste Zeit bleiben die beiden zwar für sich, produzieren dabei aber doch eine Menge Lärm. Der Plattenspieler dudelt die ganze Zeit. Seine Mutter ist ein Fan der Doors, weshalb er den ganzen Text von »Riders on the Storm« beherrscht, aber sie hat auch gegen ein bisschen Abba nichts einzuwenden, um bei »Waterloo« ein wenig die Hüften zu schwingen, wenn sie in der Stimmung dazu ist. Es gefällt ihm, wie sie den Kopf dabei schüttelt und sich das lange blonde Haar ins Gesicht fallen lässt. Manchmal lässt sie ihm seinen Willen, und er darf »Pump up the Volume« oder Rick Astley spielen, aber nur, wenn er verspricht, anschließend mit ihr im Duett zu singen. Stevie Wonder, »I Just Called To Say I Love You«. Er sträubt sich dann zum Schein, gibt vor, es nicht zu mögen, macht ts, ts, und lässt den Kopf seitlich hängen, wie er es bei Teenagern beobachtet hat. Aber insgeheim liebt er es: wie sie die Augen schließen, mit dem Kopf kreisen und so tun, als würden sie einander auf imaginären Telefonen anrufen. Anschließend wird sie ihn hochheben wollen und überrascht sein, dass sie es nicht kann, weil er inzwischen zehn ist und seit Jahren zu schwer für sie. Also drückt sie ihm stattdessen einen dieser kitzligen Küsse auf den Hals. Sie riecht nach Parma Violets, die seine Lieblingsbonbons sind, seit er denken