: Herbert Beckmann
: Der Tote im amerikanischen Sektor Kriminalroman
: Aufbau Verlag
: 9783841231949
: Jo Sturm ermittelt
: 1
: CHF 7.20
:
: Spannung
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Spione, Rock 'n' Roll und Grenzgänger aller Art.

Rock 'n' Roll in Berlin. Bill Haley spielt 1958 im Sportpalast - und wenig später wird Wulf Herzke, der Starreporter des RIAS, ermordet aufgefunden. Eigentlich kein Fall für Jo Sturm, den Ermittler, den man in die Vermisstenabteilung versetzt hat. Doch als die Tochter einer Bekannten verschwindet und deren Mutter ermordet wird, muss man ihn wohl oder übel hinzuziehen. Denn möglicherweise gab es zwischen der Ermordeten und dem RIAS-Reporter eine Verbindung. Jo Sturm bemerkt bald, dass er zwischen alle Linien gerät ... 

Ein hochbrisanter Fall für einen der ungewöhnlichsten Ermittler der fünfziger Jahre.



Herbert Beckmann, Jahrgang 1960, hat zahlreiche Bücher und Hörfunksendungen mit Bezug zu Berlin veröffentlicht, wo er seit 40 Jahren lebt und arbeitet. Mit der Figur »Jo Sturm« wendet er sich den fünfziger Jahren in Berlin zu. Im Aufbau Taschenbuch liegt bisher sein Kriminalroman »Der Amerikaner« vor.

Dienstag, 28. Oktober 1958


Jo Sturm fuhr mit seinerDKW an der Nordseite des Zoologischen Gartens den Landwehrkanal entlang und hielt auf den von den Kollegen abgesperrten Bereich zu. Ein Funkwagen stand quer auf dem Weg, dahinter ein Einsatzwagen der Kriminaltechniker. Er stoppte, stellte das Motorrad ab und ging die letzten Meter zu Fuß.

Dünne Nebelschwaden trieben über die unbewegte dunkle Wasserfläche des Kanals, trüb beleuchtet von den Weglaternen des Tiergartens und dem ersten zaghaften Licht des Tages. Vom Zoogelände drangen tierische Laute herüber, Esel oder Zebras, die um Futter bettelten, wie er vermutete, doch es klang, als wollten sie die Tote beklagen, die ganz in ihrer Nähe aus dem Kanal geborgen worden war.

Zwischen dem halben Dutzend Uniformierter und Kollegen in Zivil glaubte Jo bereits Schuchardt zu erkennen und beschleunigte noch den Schritt, als sich ihm ein Schupo breitbeinig in den Weg stellte.

»Immer langsam, junger Mann.« Der Kollege in blauer Uniform, ein Mann Mitte vierzig, hob die schwarze Lederhand. »Hier ist momentan gesperrt. Aber …«, er deutete nachlässig mit dem Daumen auf das gegenüberliegende Ufer des Landwehrkanals, »Umwege erhöhen bekanntlich die Ortskenntnisse.«

Jo zwang sich ein müdes Lächeln ab. »Wir sind Kollegen.« Er fingerte in der Innentasche seines Regenmantels nach seinem Dienstausweis, fand ihn jedoch nicht. »Ich wurde angerufen. Vermisstenstelle Gothaer Straße. Kommissar Sturm.«

»Vermisstenstelle. Und gleich Kommissar.« Der Schupo zog eine Braue hoch. »So sehen Sie gerade aus, Mann.« Sein misstrauischer Blick glitt von Jos in alle Richtungen abstehenden weizenblonden Haaren über seinen nebelfeuchten Regenmantel bis hinunter zu den hellbraunen italienischen Schuhen, die er sich zu Hause in aller Eile angezogen hatte. »Ich muss schon sagen, ihr Jungs von der Presse lasst euch immer wieder was Neues einfallen, um eine frische Leiche aus der Nähe vor die Linse zu bekommen.« Er sah Jo herausfordernd an. »Wo steckt Ihr Fotograf? Versucht es von der anderen Seite, der Kollege, was? Hab mich schon gewundert, dass noch keiner von euch aufgetaucht ist. Ihr seid doch angeblich so ein ausgeschlafener Menschenschlag. Von welchem Blatt sind wir denn:BZ, Morgenpost, Kurier?«

In der Seitentasche seines Jacketts fand Jo seinen Dienstausweis. Der Schupo warf einen erschrockenen Blick darauf. »Entschuldigung, Kommissar, mir wurde gesagt, dass nur die Ermittler von der Kripo und dieKT und der Arzt und so weiter … Aber die sind ja schon alle da.«

»Wie ich schon sagte, ich wurde angerufen.«

Der Schupo trat etwas steif zur Seite, und Jo ging an Funk- und Einsatzwagen vorbei auf die aufgedunsene Leiche zu, die rücklings auf einer grauen Unterlage im fahlen Gras der Uferböschung lag. Umstanden von zwei weiteren Uniformierten, dem Arzt, der sie untersuchte, und Schuchardt, der den Pathologen still beobachtete.

Jo war vor etwa einer Dreiviertelstunde zu Hause angerufen worden. Seine Wohnungswirtin, Frau Küpper, eine notorische Frühaufsteherin, hatte ihn nach einer langen, letztlich aber enttäuschenden Nacht in verschiedenen Clubs der Stadt aus dem Schlaf rütteln müssen. »Jemand aus Ihrer Zentrale, Herr Sturm!«

Schlaftrunken war Jo zum Telefon im Flur gewankt. Der Anruf kam aus der Einsatzzentrale des Präsidiums, eine ihm unbekannte weibliche Stimme teilte ihm in dem üblichen formalen Singsang mit, dass im Landwehrkanal, an der Nordseite des Zoologischen Gartens, die Leiche einer Frau geborgen worden sei, bei der es sich möglicherweise um die vermisste Person Margret Kwiatkowski handele. Der zuständige Ermittlungskommissar Schuchardt erbitte Jos umgehende Anwesenheit am Fundort der Leiche.

»Margret Kwiatkowski«, wiederholte Jo. Er war sofort hellwach. Seit gut einer Woche war die Frau verschwunden, seitdem fahndete er nach ihr.

Dankenswerterweise hatte Petra Küpper bereits frischen Kaffee gebrüht – wenn auch für Markwort, ihren »Bekannten«, einen Schuhvertreter und mehrfachen Familienvater, der zwischen Berlin und Osnabrück pendelte und meist früh aufbrach. Jo hatte zwei Tassen hinuntergestürzt und war am verdutzten Markwort vorbei ins Bad gestürmt, um sich mit ein paar eiskalten Spritzern aus der tröpfelnen Brause frisch zu machen. Noch mit feuchten Haaren war er anschließend in seinem Zimmer in die Sachen vom Vorabend geschlüpft, die noch auf dem Boden verstreut lagen, um wenige Minuten später mit seinerDKW den kürzesten Weg Richtung Zoo zu nehmen. Allerdings wurde er unterwegs durch mehrere Baustellen überrascht, und zudem streikten auch noch die Zündkerzen zweimal, so dass er für die Strecke deutlich länger als gedacht gebraucht hatte.

Als er sich jetzt an den zwei Schupos vorbeischob und auf die Leiche zuging, hob Schuchardt den Kopf und begrüßte ihn mit einem tadelnden Blick.

Schuchardt war ein kleiner dünner Mann mit der Tendenz, dies zu verkennen, sein viel zu langer Mantel hing ihm bis unter die Knie, und der graue Filzhut wurde beinahe von den Ohren gestützt. Die Spitzen seiner langen schmalen Krawatten ließ er gewöhnlich in der Hose verschwinden. Groß und beeindruckend waren jedoch Schuchardts walnussgroße, wasserblaue Augen und das Delta roter Äderchen auf seiner langen Nase.

»Wo haben Sie denn gesteckt, Mensch?« Schuchardt reichte ihm etwas ungehalten die Hand. »Der Doktor hier ist beinahe schon fertig mit der Dame.«

Der Arzt, ein korpulenter Mann in seinen Fünfzigern, mit spärlichem Haar und einem weiten weißen Kittel über seinem Mantel, blickte nicht einmal auf. Er gehörte vermutlich zum nächtlichen Bereitschaftsdienst der Pathologie des Krankenhauses Moabit und war vielleicht kurz vor Dienstschluss noch gerufen worden.

Jo warf einen Blick auf die Leiche und versuchte, die sachliche Haltung einzunehmen, die es ihm ermöglichte, den Anblick zu ertragen und ihn hoffentlich bald wieder zu vergessen: eine Frau zwischen fünfzig und sechzig Jahren, deren individuelle Züge Wasser und Verwesung bereits weitgehend aus dem Gesicht gelöscht hatten, in einem dunklen, jetzt vollkommen verfilzten und verdreckten Wollkleid. Grau meliertes, stark verklumptes schulterlanges Haar, zu Lebzeiten möglicherweise zu einem Knoten oder Ähnlichem zusammengebunden. Leere Augenhöhlen blickten zum trüben Himmel hinauf, vielleicht das Ergebnis von Wasserschnecken oder Blutegeln. Die Haut an den Händen und nackten Beinen schimmerte wächsern und aschgrau, selbst in dem grellen Licht der von den Technikern aufgestellten Lampen.

Jo hob den Blick und sah Schuchardt an. »Margret Kwiatkowski? Vom Alter her könnte sie es sein.« Jahrgang 1906 laut Meldeauskunft. Die in ihrer Wohnung aufgefundenen Fotografien von ihr, die er in der Vermisstenakte gesammelt hatte, waren hier bereits nutzlos geworden. »Aber wie kommenSie darauf, dass sie es sein könnte?«

Schuchardt deutete mit dem Kinn auf den Einsatzwagen der Techniker. »Ihr Mantel hing noch an einem Arm, als Passanten sie heute früh entdeckten, zwei Tierpfleger auf dem Weg zur Arbeit, hab sie bereits vernommen. In der Innentasche des Mantels steckte der Behelfsmäßige der Frau. Margret Kwiatkowski demnach. Aber man weiß ja nie.«

Jo warf wieder einen Blick auf die Leiche. »Mit dem Ausweis im Mantel vorschriftsmäßig ins Wasser gegangen?« Er sprach aus, was sich vermutlich auch Schuchardt fragte: Fremdeinwirkung oder nicht? Mord oder Selbstmord?

Schuchardt zog Jo ein paar Schritte zur Seite. »Ich konnte dem großen stillen Mann dort, unserem Doktor, ein paar Worte entlocken.«

»Glückwunsch. Und?«

»Auf den ersten Blick keine äußeren Gewalteinwirkungen, abgesehen von den Hautverletzungen, Abschürfungen und so weiter, die bei einer Wasserleiche erwartbar sind. Und da ihr Name auf Ihrer Vermisstenliste der letzten Tage stand …«

»Sie haben sich die Liste angesehen?« Jo neigte anerkennend den Kopf. Nicht alle Mordermittler nahmen zeitnah Kenntnis von seinen aktuellen Suchanzeigen, die auch hausintern kursierten. Obwohl die Vermissten in Berlin auf seiner Fahndungsliste keineswegs selten als Mordfälle endeten.

»Routineabfrage«, gestand Schuchardt. »Keine große Sache.«

Jo hatte Schuchardts...