Brunetti hatte zwar denGazzettino schon in den Papierkorb geworfen, doch das Thema des Leitartikels ließ ihn auch auf dem Heimweg von der Questura nicht los. Zu Hause auf dem Sofa versuchte er sich auf Ciceros Anklage gegen einen korrupten Beamten in denReden gegen Verres zu konzentrieren, doch seine Gedanken kehrten immer wieder zu den Geldströmen zurück, die das Land seit dem Wüten der Pandemie geflutet hatten.
Mehr als125000 Menschen waren schon umgekommen, und doch hatte dies der Gier kein Ende gesetzt. Wie Brunetti schon gefürchtet hatte, bediente sich das organisierte Verbrechen ungeniert aus dem praktisch unbewachten Trog. Das Geld fiel vom Himmel, ein verängstigtes Europa mästete seine Unternehmen. Die Namen der Direktoren mancher Firmen hatten ihn ebenso erschauern lassen wie die Namen mancher für die Verteilung der Mittel zuständigen Beamten. Er und seine Kollegen von der Guardia di Finanza würden noch von ihnen hören.
Kredite wurden gewährt, viele Geschäfte vor dem Untergang bewahrt, viel Gutes geschah, vielen wurde geholfen. Dennoch war Brunetti überzeugt, dass sich ein Gutteil des Geldes auf dem Weg zu seinen Empfängern in Luft auflöste und zahllose Unternehmen nur gegründet wurden, um Konkurs anzumelden und entschädigt zu werden.
Brunetti verstand von Wirtschaft nicht sehr viel, doch was das Betrügen und Stehlen anging, machte ihm niemand etwas vor: Die Verwüstungen, die das Virus in der Wirtschaft anrichtete, waren die perfekte Gelegenheit zu solchen Schurkereien. Er kannte die Tricks der Taschendiebe und Straßenräuber: Unruhe stiften, das Opfer ablenken und verunsichern, um es dann unbemerkt auszuplündern. Geschäftstüchtige Gauner hatten schnell erkannt, wie sie nun sogar ohne eigenes Zutun von der Angst und Verwirrung ihrer Opfer profitieren konnten.
Il Gazzettino berichtete von Gewerberaum, der von Hand zu Hand ging. Wo so viele Existenzen am Abgrund standen, sollte dies eigentlich ein ermutigendes Zeichen sein, Hoffnung auf eine Wiederbelebung der Stadt, würden nicht gleichzeitig die überregionalen Zeitungen berichten, dass die diversen Mafias nicht wüssten, wohin mit dem vielen so unverhofft ergatterten Geld, das gewaschen und wieder ins Banksystem eingeschleust werden musste. Bot sich da ein Geschäft in guter Lage in Venedig nicht geradezu an? Über kurz oder lang würden die Touristen zurückkommen, selbst die Kreuzfahrtschiffe würden wieder aus der Versenkung auftauchen, auch wenn Brunetti sie eher als schwimmende Särge betrachtete.
Er verscheuchte diese Gedanken. Wozu sich vorschnell düsteren Spekulationen hingeben? Vielleicht würden die Menschen ja, täglich mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, doch noch zur Vernunft kommen und andere Prioritäten s