5 Beratung und Therapie für Familien mit einem körperlich kranken Elternteil (S. 78-79)
Bevor sich die medizinische Familientherapie als konzeptionell fundierte, eigenständige Richtung innerhalb der psychosozialen Medizin etablieren konnte, hatten andere psychosoziale Betreuungskonzepte für chronisch Kranke eine wichtige Vorreiterfunktion. Einer familientherapeutischen Sicht auf die mit ernsthafter Erkrankung einhergehenden Stressoren und ihre Bewältigung ging theoretisch die Entwicklung eines bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnisses (Uexküll& Wesiack, 1996) sowie klinisch die Entwicklung einzeltherapeutischer Konzepte für chronisch kranke Erwachsene und Kinder voraus.
Herausragende Bedeutung kommt hierbei der Psychoonkologie zu, die längst zu einer eigenständigen Disziplin geworden ist, die insbesondereüber ihre eigenen Forschungsaktivitäten enorm viel zur zunehmenden Evidenzbasierung psychosozialer Betreuungskonzepte in der Medizin beigetragen hat. Die professionelle Sensibilisierung für die Erlebnisperspektive und Bedürfnisse von Kindern körperlich kranker Eltern entwickelte sich im Laufe der letzten Jahrzehnte in einem Kontinuum. Nachdem zunächst der medizinische Fortschritt in der zweiten Hälfte des vorangegangenen Jahrhunderts eine zunehmende Verbesserung von Lebenserwartung und Lebensqualität chronisch Kranker ermöglicht hatte, ergab sich die zunehmende Notwendigkeit nach professioneller psychosozialer Unterstützung für diese Patienten.
In den 70er und 80er Jahren entwickelten sich spezialisierte Betreuungskonzepte für lebensbedrohlich oder chronisch kranke Kinder innerhalb der Pädiatrie (z. B. Bürgin, 1978), in die zwangsläufig die Eltern und teilweise auch die Geschwister mit einzubeziehen waren. Damit waren die Auswirkungen einer ernsten Krankheit auf die Eltern-Kind-Beziehung und das Bindungssystem im professionellen Blickfeld. So gesehen ist die Konzipierung einer sich den seelischen Nöten und Bedürfnissen von Kindern kranker Eltern zuwendenden medizinischen Familientherapie ein konsequenter Schritt, der die vorangegangenen Entwicklungen in der psychosozialen Medizin rezipiert und weiterentwickelt.
5.1 Publizierte Interventionskonzepte
Bislang gibt es nur wenige Interventionsprogramme, die explizit auf die psychosoziale Unterstützung von Kindern körperlich kranker Eltern fokussieren. Diese sind in der Regel theoriegeleitet entwickelt worden sind meist nicht systematisch qualitätsgesichert und evaluiert. Als klinisch-theoretischer Hintergrund wurden u. a. psychodynamische Konzepte (Gunther et al., 1998, Urbach& Culbert, 1991) kognitiv-verhaltenstherapeutische (Davis-Kirsch et al., 2003, Rotheram-Borus et al., 1997), neuere entwicklungspsychologische oder sozial-kognitive Ansätze (Hoke, 1997, Lewandowski, 1992, Christ, 2000) sowie systemische Konzepte (Dale& Altschuler, 1999, Rolland, 1999, Sholevar& Perkel, 1990, Steinglass, 1987, 1998) angegeben. Die elterlichen Erkrankungen, zu denen kindzentrierte Interventionsansätze publiziert wurden, beschränken sich vorwiegend auf Krebs, AIDS und Schädel-Hirn-Verletzungen (für eineÜbersicht siehe Diareme et al., 2005). Bei der Darstellung familientherapeutischer Interventionskonzepte für körperlich Kranke wird in aller Regel nicht besonders Bezug auf minderjährige Kinder genommen. Bei spezifisch kind-zentrierten Ansätzen wurden gruppentherapeutische sowie einzeltherapeutische Vorgehensweisen berichtet.
Gruppentherapeutische Interventionen für Kinder und Jugendliche. Eines der ersten publizierten Gruppeninterventionsprogramme für Kinder von Krebspatienten war das von Call (1990) entwickelte Programm sogenannter„school-based-groups". Das Konzept besteht darin, dass Kinder, deren Eltern an Krebs erkrankt sind, an ihrer jeweiligen Schule zu betreuten Gesprächsgruppen zusammengeführt werden, die von einem Beratungslehrer und einem Mitarbeiter einer Beratungsstelle für Krebspatienten gemeinsam geleitet werden.
Der Ansatz ist supportiv mit dem vorrangigen Ziel der Entstigmatisierung der Krebserkrankung im Erleben der Kinder. An Vorteilen werden u. a. die Niedrigschwelligkeit durch Wegfall des Wegeproblems sowie die Möglichkeit der fortgesetzten wechselseitigen sozialen Unterstützung unter den Gruppenteilnehmern an der Schule auch nach Abschluss der Intervention angegeben. Eine Reiheähnlich konzipierter unterstützender Gruppenangebote für Kinder und Jugendliche mit einem an Krebs erkrankten Elternteil wurden an Krankenhäusern entwickelt und an onkologische Behandlungseinheiten angegliedert (Bedway& Smith, 1996, Taylor Brown et al., 1993). |