Kapitel 2
»Also heißt es eher ›Woher wir kamen‹ und nicht ›Wohin wir kamen‹«, schloss Ezra.
»Sieht so aus.« Elli nickte.
Sie standen nun schon den dritten Tag gemeinsam an Ezras Pult im Studierwerk und durchforsteten endlos viele Schriften, um eine Übersetzung eines Textes anzufertigen. Das Pult war zwar groß, sodass drei Bücher gleichzeitig darauf Platz hatten, aber dennoch reichte das oft nicht für ihre Arbeit aus. Daher lagerte Elli die Schriften auf dem Pult nebenan aus. Sie musste dafür zwar immer um das Trennregal zwischen den Pulten herumgehen, aber sie brauchten einfach mehr Platz. Sie ging hinüber und holte eine Schriftrolle, die eine Karte eines Teils der damaligen Welt zeigte.
»Das verändert den Sinn komplett«, murmelte Ezra und blätterte seine Aufzeichnungen durch.
Elli legte die Karte über eines der Bücher auf Ezras Pult und zeigte mit dem Finger auf einen Stadtnamen. »Der Text spricht von Hazara als Ort, woher sie kamen. Wenn sie von dort kamen und nicht dorthin gingen, wohin sind sie dann gegangen?«, fragte sie nachdenklich und ließ ihren Blick rund um Hazara schweifen.
»Egal ob nach Westen oder Süden, dann wären sie den Vandalen begegnet. Nach Osten hätten sie auf Waliser treffen müssen«, überlegte Ezra laut, während er sich zu Elli über die Karte beugte.
Elli nickte und fuhr die Karte entlang. »Nach Norden zu gehen, wäre eigentlich Unsinn. Sieh dir nur den Bergpass an. Der muss so kurz nach der Katastrophe komplett voller Eis gewesen sein«, bemerkte sie.
»Vielleicht erfahren wir es noch.« Ezra tippte mit vor Neugier funkelnden Augen auf das Buch, das neben seinem Text zahlreiche weitere beinhaltete, die noch zu übersetzen waren.
»Vielleicht.« Elli zuckte mit den Schultern und ließ die Karte los, die sich daraufhin halb wieder einrollte.
»Du scheinst nicht so von dieser Frage gefesselt zu sein«, bemerkte Ezra.
»Stimmt.«
»Wieso?«
Elli seufzte und schaute durch die große Glaskuppel hinaus in den blauen Himmel. »Weißt du, Ezra, es ist natürlich interessant, was damals passiert ist, aber wir haben heute so viele Probleme, mit denen wir uns beschäftigen müssten, dass mir die Ruhe fehlt, um wirklich neugierig zu sein«, gestand sie und sah den Referendar wieder an.
Ezra runzelte seine Stirn in Unverständnis. »Was denn für Probleme?«
Sie verzog ihre Lippen. »Lass mich raten, du warst nie außerhalb der Mauern.«
»Doch, klar. Ich komme aus dem Westviertel.«
So hatte Elli das sicher nicht gemeint. Aber eigentlich war klar, dass er mit seiner Sicht auf die Welt sie falsch verstanden hatte. Sie hatte ja begriffen, dass das Leben hier ein anderes war. »Dann kennst du die Probleme, von denen ich spreche, wahrscheinlich gar nicht. Ich komme aus den Armenvierteln. Ich bin dort aufgewachsen und habe bis vor kurzem da gelebt. Es gibt viele Probleme dort draußen und der Orden könnte so viel tun.«
»Der Orden? Aber der Orden tut doch schon viel.«
»Wirklich? Was tut dein Haus?«, fragte sie herausfordernd.
»Mein Haus? Na, wie jedes Haus schickt es die Nicolaner, die für Ordnung sorgen«, erklärte er wie auswendig gelernt.
Elli nickte. Genau diese Antwort hatte sie erwartet. Weil sie nicht sahen, dass sie im Grunde nichts taten. »Das ist doch nicht helfen. Der Glauben lebt Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Nicolaner bestrafen bloß jene, die eine Sünde begangen haben. Aber wer hilft denen, die keine Sünde begangen haben? Den Gehorsamen, egal ob wahrhaft gläubig oder nicht? Ich sag es dir, Ezra. Ich war draußen. Niemand hilft ihnen.«
Ezra schüttelte leicht seinen Kopf. Er zog sein Kinn zurück und stieß die Zunge leicht zwischen seinen Lippen durch. Er mochte nicht, was sie sagte. »Und was könnten wir in deinen Augen tun?«, fragte er schließlich nach.
»Unterrichten«, schlug sie vor.
»Was denn?«
»Lesen und schreiben. Die Kinder hätten etwas zu tun und würden nicht mehr auf der Straße herumlungern müssen. Man könnte sie früh Barmherzigke