: Anne Labus
: Winterzauber in der kleinen Teestube zum Glück
: Aufbau Verlag
: 9783841228864
: Kleeblatt-Träume
: 1
: CHF 7.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 359
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Nach dem überraschenden Tod ihrer Tante kündigt Jessie ihren Job und übernimmt die Teestube und die Poststelle von Busby, obwohl sie das eigentlich nie vorhatte. Der ganze Ort, allen voran Claire, die Wirtin des kleinen Pubs und Edward, der charmante Tierarzt, unterstützen Jessie und lassen sie mit der neuen Aufgabe nicht allein. Als sich ihre ersten Gäste als undurchsichtige Bauunternehmer herausstellen, die ihre ganz eigenen Pläne mit Busby haben, erwacht Jessies Kampfgeist. Welche Rolle spielt der gutaussehende Trevor, der Sohn des Baulöwen, dabei?

Und dann überschlagen sich die Ereignisse. Die Poststelle soll geschlossen werden und ein Hochwasser richtet große Schäden an. Werden die Dorfbewohner diese Herausforderungen meistern? Und wird auch Jessie so kurz vor Weihnachten ihren Herzensmenschen finden?



Anne Labus, Jahrgang 1957, lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Udo Weinbörner, in der Nähe von Bonn. Nach ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau arbeitete sie unter anderem als selbständige Fitness- und Pilatestrainerin. Die Leidenschaft für das Reisen hat sie an ihren Sohn vererbt, der auf Hawaii seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat. Die Autorin entspannt sich beim Kochen, liebt Bergtouren und lange Strandspaziergänge. Inspirationen für ihre Romane findet sie in Irland und Italien oder auch auf Spiekeroog.

Kapitel 1


Die Wachsjacke rutschte ihr aus der Hand. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie öffnete den Mund und brachte doch keinen Ton heraus. Wie gelähmt stand sie im Wohnzimmer und starrte auf ihre Tante. »Bitte nicht«, flehte Jessie stumm und kniete sich vor die alte Frau im Ohrensessel. Der Glanz in Mauras Augen war erloschen. Ihre Lippen waren blutleer und blass.

»Wach auf, Tantchen«, flehte Jessie und schlang die Arme um sie. »Du darfst mich nicht alleinlassen. Wir hatten doch noch so viele Pläne.« Sie schmiegte ihr Gesicht an Mauras Wange, schreckte zurück, als sie die Kälte der Haut spürte.

Endlich löste sie sich aus der Schockstarre, krabbelte auf allen vieren zur Kommode und zog sich daran hoch. »Ein Arzt. Wir brauchen einen Arzt«, stammelte sie und stürzte aus dem Haus. Obwohl die Praxis von Jack, dem Dorfarzt, nur wenige Schritte von der Teestube entfernt lag, schien Jessie dieser Weg unendlich weit. Mit tränenverschleierten Augen überquerte sie die Straße und wich im letzten Moment einem Traktor aus, der von einem Feldweg auf die Hauptstraße von Busby einbog.

»Mensch, Jessie! Kannst du nicht aufpassen?«, wetterte der Farmer Tommy Burke.

Sie schüttelte traurig den Kopf und hetzte über die Auffahrt zum Arzthaus. Trotz des kühlen Novemberwetters stand die Haustür einen Spalt breit offen. Im Flur, der als Wartebereich diente, saß die alte Mrs Winter und strickte. Als Jessie an ihr vorbei auf das Sprechzimmer zulief, wurde sie von der schwerhörigen Frau angeschnauzt: »Hier wird nicht vorgedrängelt!«

Jessie zuckte nur bedauernd mit den Schultern und hämmerte mit der Faust so lange an die Tür des Untersuchungszimmers, bis Dr. Jack O’Learys Gesicht im Türspalt auftauchte. »Was ist hier los?« Er musterte sie über den Rand seiner Hornbrille.

»Meine Tante«, brachte sie mühsam heraus. »Sie ist …« Dann versagte ihre Stimme, und ihre Knie wurden weich. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, fasste Jack ihr unter die Arme und bugsierte sie auf einen der Stühle im Wartebereich. Er tastete nach ihrem Puls, schaute ihr in die Augen.

»Du bleibst hier sitzen, bis ich zurückkomme. Ich sage Claire Bescheid, die kann dir beistehen.« Er warf Mrs Winter einen strengen Blick zu. »Kümmern Sie sich bitte um Jessie«, bat er energisch und eilte zurück in sein Sprechzimmer.

Keine zwei Minuten später eilte er mit seiner Arzttasche am Arm an ihr vorbei aus dem Haus. Kurz darauf verließ auch sein Patient, ein Farmer aus dem Nachbarort, die Praxis.

Jessie stützte die Ellbogen auf die Knie, verbarg das Gesicht in den Händen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Mrs Winter redete unaufhörlich auf sie ein. Doch sie hörte nicht, was sie sagte. Erst als ihr jemand über den Rücken strich, hob sie den Kopf. Claire, die beste Freundin ihrer Tante, stand vor ihr und lächelte sie warmherzig an. »Ich bin da, Jessie, Liebes. Fühlst du dich stark genug, mich zu euch nach Hause zu begleiten?«

Jessie schniefte und nickte zaghaft. »Vielleicht habe ich mich getäuscht, und sie hat nur geschlafen«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Jack kann ihr doch eine Kreislaufspritze geben, wie sonst immer. Sicher geht es ihr bald wieder besser.« Sie tapste neben der älteren Frau her, ließ sich bereitwillig von ihr an die Hand nehmen und aus dem Haus führen. Jessie war dreißig, aber momentan kam sie sich vor wie ein kleines Mädchen, unfähig, nur einen Schritt allein zu gehen. Solange sie denken konnte, war Maura, die Schwester ihrer Mom, für sie da gewesen. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter hatte die Tante sie aus Dublin in das beschauliche Busby geholt. Jessie war damals erst vier, konnte kaum verstehen, was mit ihr geschah. Aber Maura hüllte sie mit ihrer Wärme und Liebe ein, half ihr, über den Verlust hinwegzukommen. Schon bald hatte sich Jessie in dem kleinen Dorf an der Westküste eingelebt, und es war ihre Heimat geworden.

»Hörst du, was ich sage?« Claire drückte ihre Hand und stellte sich vor sie, um ihr in die Augen zu sehen. »Du musst deinen Chef im Supermarkt anrufen und um Sonderurlaub bitten.«

Erst jetzt nahm Jessie wahr, dass sie vor der Teestube angelangt waren. Die feuchte Novemberluft drang durch ihren leichten Baumwollpullover. Bibbernd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper und blinzelte Claire an. »Sorry«, sagte sie mit dünner Stimme und schüttelte den Kopf. »Ich habe mich daran erinnert, wie ich als Kind zu euch ins Dorf gekommen bin.« Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, als könnte sie so die Geister der Vergangenheit vertreiben.

»Du warst wie ein Vogeljunges, das man aus dem Nest geworfen hatte«, murmelte Claire und rieb ihr über die Arme. »Komm ins Warme. Du erkältest dich sonst noch.«

Fürsorglich umfasste sie Jessies Schultern und führte sie um das Haus zum Hintereingang. Wie üblich war die Tür nicht verschlossen. Im Dorf kannte und vertraute man sich. Jessie, die in der Teestube ihrer Tante aufgewachsen war und in der kleinen Poststelle, die sie nebenbei betrieb, beim Briefefrankieren geholfen hatte, konnte sich kaum vorstellen, in der Anonymität einer Großstadt zu leben.

Sie betrat den schmalen Flur und zog fröstelnd die Schultern hoch. »Hier zieht es«, stellte sie erstaunt fest. »Ich bin mir ganz sicher, dass alle Fenster verschlossen waren.« Rasch zog sie die Tür hinter Claire und sich zu und eilte zur Treppe, die in die Wohnung über der Teestube führte. »Ich gehe schnell nachsehen. Meine Tante friert doch so leicht.« Sie hatte schon einen Fuß auf der untersten Stufe, als Jack im oberen Flur auftauchte und zu ihr heruntersah. Er räusperte sich, blieb einen Moment auf dem Treppenabsatz stehen, bevor er ihr entgegenkam. »Es tut mir unendlich leid, Jessie«, sagte er mit rauer Stimme und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Deine Tante ist von uns gegangen.«

»Das kann nicht sein!«, japste sie. »Heute Morgen, bevor ich zur Bushaltestelle ging, hat sie noch auf der Leiter gestanden und laut gesungen. Wie …?« Sie weigerte sich, wahrzuhaben, was sie doch längst wusste. Ihre geliebte Tante lebte nicht mehr. Nie wieder würde sie sich mit ihr über das Fernsehprogramm streiten, untergehakt mit ihr in der Bucht spazieren gehen. Nie wieder würde das Haus nach Mauras Apfelkuchen duften. »Nein!«, schrie sie und raufte sich die Haare. Die Wände schienen sich auf sie zuzubewegen. Vor ihr tat sich ein dunkler Abgrund auf. Stöhnend sackte sie zusammen und kauerte sich auf die Treppe.

Jack beugte sich zu ihr, tastete nach ihrem Puls. »Mach mir nicht schlapp«, sagte er mit besorgter Stimme. »Was du im Moment brauchst, ist ein starker Tee und etwas Süßes für die Nerven.«

»Lass mich nur machen, Doc«, mischte sich Claire ein und hockte sich vor sie. »Du bist nicht allein, mein Mädchen. Ich bin für dich da. Das ganze Dorf ist jetzt deine Familie.« Sanft umfasste sie Jessies Handgelenke und zog sie auf die Beine.

»Ich möchte zu ihr«, hörte sich Jessie sagen. Wie in Trance schlich sie an Jack vorbei die Treppe hinauf ins Wohnzimmer. Sie schreckte zurück, als ihr ein eisiger Wind aus dem offenen Fenster entgegenwehte. Niemals würde sie sich an diese Sitte gewöhnen, der Seele eines Verstorbenen den Weg zum Himmel zu öffnen. »Ich bin da, Tante Maura«, flüsterte sie kaum hörbar und näherte sich dem Sessel mit gesenktem Blick. Sie atmete tief durch, wappnete sich für den Anblick der Toten. Das Erste, was ihr auffiel, war die Wolldecke, in die Jack ihre Tante fürsorglich gewickelt hatte. Er hatte ihr die Augen geschlossen und ihren Kopf an ein Kissen gelehnt. Jessie atmete ein wenig auf, als Claire sich neben sie stellte und beruhigend auf sie einsprach. »Sieh nur, wie friedlich sie lächelt«, raunte die ehemalige Wirtin des Pubs. »Jack meint, sie musste nicht leiden. Ihr Herz war schon lange schwach. Es hat einfach aufgehört zu schlagen.« Sie strich Jessie zart über den Arm. »Willst du dabei sein, wenn Nora und ich sie waschen und ihr das Totenkleid anziehen?«

»Sie hat einmal gesagt, dass sie in ihrem dunkelblauen Lieblingskleid beerdigt werden möchte.« Jessie schluckte. »Sie soll auf keinen Fall frieren. Ich möchte, dass sie ihre dicken Wollstrümpfe trägt und die Strickjacke, die sie so geliebt hat.« Zaghaft strich sie der Toten über die Wange. »Schlaf gut,...