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Am Donnerstag, dem 24. Oktober, bricht in den Vereinigten Staaten von Amerika die Börse ein, nachdem sie einen jahrelangen Höhenflug erlebt hat. Aus anfänglicher Unsicherheit wird Angst, und aus der Angst entsteht Panik. Daraufhin unternehmen einige große Banken Stützkäufe, wodurch sich die Lage kurzfristig beruhigt. Doch der Abwärtstrend setzt sich am darauffolgenden Montag fort. Der Aktienwert vieler Unternehmen sinkt so weit, dass deren Kredite nicht mehr gedeckt sind. Die Banken fordern ihr Geld zurück. Am Dienstag fallen die Kurse ins Bodenlose, manche Unternehmen haben nur noch ein Prozent des Wertes der Vorwoche. Als Folge davon brechen auch die europäischen Börsen ein.
So hatte Tankred es sich immer vorgestellt. Haargenau so. Das Herz der Blankenburgs. Königstein, ein Städtchen am Südhang des Taunus, umgeben von Wäldern, Obsthainen und Burgen. Der Herrensitz der Blankenburgs, die Villa Vanora, zwei, drei Steinwürfe von der Villa Rothschild entfernt mit Blick auf Frankfurt und die Mainebene. Ein großes schmiedeeisernes Tor, ein gewundener Weg, ein Park, ein Brunnen, ein Kasten von Haus. Die kalte Eingangshalle, Steinböden, stoffbespannte Wände, schwere Vorhänge. Die in solchen Häusern unvermeidliche Ahnengalerie in ewiger bewegungsloser Ernsthaftigkeit, neun Kaufmannsgesichter von frostiger Blässe. Und in der Mitte des Herzens der Blankenburgs befand sich deren Seele: die legendäre Porzellanblume.
In einem Bildband hatte er ein Foto davon entdeckt, in Schwarz-Weiß. Mit geschlossenen Augen hatte er sich das Symbol der Blankenburgs, das zum Gründungsmythos des Familienunternehmens gehörte, in Farbe vorgestellt. Seine Fantasie hatte ihn nicht getrogen.
Vor ihm, in einer Vitrine, ruhte auf einem Kissen eingewundener, stricknadeldicker, etwa sechzig Zentimeter langer Stiel im vornehmsten Eierschalenweiß, von dem fünf sattgrüne Blätter abzweigten. Das Stielende barg den Blütenkopf wie eine kostbare Brosche. Die etwa zwanzig winzigen Blüten des halbrunden Kopfes schimmerten weiß und rosa, und man konnte ohne Übertreibung sagen, dass dieses Kunstwerk die Natur an Schönheit noch übertraf. Auch die echte, in Asien beheimatete Porzellanblume hatte jenes wächserne Kolorit, dem sie ihren Namen verdankte. Doch war das »Opus 1« der Blankenburgs so filigran, so detailliert gearbeitet, dass selbst Menschen wie Tankred, die sich im Grunde nichts aus Porzellan machten, kurz der Atem stockte.
Im Jahre 1768 hatte der Gründer des Familienunternehmens, Ludwig Emanuel Blankenburg, die Porzellanblume unter erheblichem Aufwand anfertigen lassen und sie der »Großen Landgräfin« Karoline Henriette von Hessen-Darmstadt zum Geschenk gemacht. Ein Coup, zweifellos. Die Blankenburgs avancierten dadurch zu Hoflieferanten. Ein beinahe identisches Modell ging an den »vielgeliebten König« LouisXV. von Frankreich, weil man immer schon gute Verbindungen in das Nachbarland gehabt hatte und sich Aufträge aus Versailles versprach. In den Wirren der Revolution wurde dieses Exemplar zerstört, wohingegen man die hessische Blume, fortan auch »Karolinenblume« genannt, im Jahre 1806 zurückkaufte und seitdem wie einen Gralsschatz hütete. Sie war der Inbegriff des Aufstiegs und ebenso unantastbar. Gewiss hatte sie seit Jahrzehnten keiner mehr in der Hand gehalten, denn es war Tradition, sie nur bei der Übergabe der Manufaktur vom Vater auf den Erben hervorzuholen.
Neun Patriarchen –