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»Schläft Mama noch?«
»Ja, Mama schläft.«
»Wann wacht sie endlich auf?«
»Das weiß ich nicht.«
»Warum schläft sie so lange?«
»Weil sie sehr, sehr müde war.«
»Und warum müssen wir sie dann besuchen, wenn sie sowieso schläft?«
Nathaniel lässt die kleine Hand kurz los, wuschelt durch Silas’ Locken und drückt ihn während des Gehens an sich, sodass sie beide beinahe ins Stolpern geraten. »Sie schläft nicht richtig. Nicht so wie du und ich schlafen. Sie ist bloß nicht ganz wach. Aber sie spürt, dass wir da sind. Wenn wir mit ihr reden, kann sie unsere Stimmen hören. Dann weiß sie, dass sie nicht allein ist.«
»Aber ich will, dass sie aufwacht! Mama ist langweilig, wenn sie immer nur schläft.«
Nathaniel verspürt einen Stich im Herzen. Nie hätte er gedacht, dass er ein Kind derart lieben könnte. Sein Stock stößt mit einem hellen Klang an eine Kante. Metall, die Tür, sie müssen nach rechts, dann weiter: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben und acht. Nach acht Schritten stoppt Nathaniel, er tastet nach dem kleinen Plättchen neben der Tür, findet es und fährt mit den Fingern über die Zahlen. Zimmer zweihundertdreizehn. Sie sind da. Nathaniel drückt auf die Klinke.
Das ungleiche Paar ist längst ein eingespieltes Team. Silas führt den blinden Nathaniel ins Zimmer und legt dessen Hand auf die Metallstange am Bettende, die sich immer kalt anfühlt. Er holt die zwei Stühle, die unter dem Fenster stehen, und schiebt sie mit einigem Getöse neben das Bett. Dann weist der Kleine den Großen an, wo er sich hinsetzen kann, er macht das ganz vorsichtig, als wäre er der Erwachsene und nicht gerade erst vier Jahre alt. Sobald sie dasitzen neben der schlafenden Frau, der kleine Junge und der blinde Mann, die sich irgendwie ähnlich sehen, ohne dass es einem der beiden bewusst ist, schweigen sie erst einen Moment. Der Augenblick verlangt nach Stille. Die Worte fordern Zeit, bis sie sich finden lassen.
Die Frau liegt reglos vor ihnen. Wie tot und doch nicht tot. Carole Stein ist das Opfer eines Gewaltdeliktes, und darum ist Silas das auch, ein Opfer, darum hat ihn seine Mutter noch nie gesehen, ihn nie in die Arme nehmen, ihn nie trösten, nie mit ihm schimpfen, ihm nie übers Haar streichen können. Sie wäre fast gestorben, als sie ihn mit letzter Kraft ins Leben gepresst hat. Seither liegt sie im Wachkoma. Vier Jahre schon.
Nathaniel tastet nach ihrem Arm, greift nach ihrer Hand. Legt sie in seine. Er hofft jedes Mal, eine Reaktion zu spüren. Doch da ist nichts.
»Nathaniel, das ist nicht meine Mama.« Silas flüstert, als fürchtete er, jemanden aufzuwecken.
»Doch, sie ist deine Mama. Du hast jetzt einfach zwei Mamas. Das hatte ich auch, als ich etwas älter war als du.«
Stimmt nicht, rügt Nathaniel sich selbst. Doch er erzählt Silas nicht, dass seine eigene Mutter schon tot war, als er eine Adoptivmutter bekommen hat, eine ganze Adoptivfamilie, alles inklusive. SeinefalscheFamilie, wie er sie nennt, wenn niemand es hört. Sie