Der einarmige Mann verstummt, denn nun erst sieht er voll in die grünen Augen des Gastes hinein. Und da ist ihm, als müsste er den Atem anhalten.
Jim Drago wendet sich etwas ab, öffnet den Briefumschlag und sieht hinein. Er erkennt einige große Banknoten, und er weiß, dass es zehn Hundertdollarnoten sein müssen. Er zählt nicht nach, sondern steckt den Umschlag weg und nimmt seine Reisetasche.
»Ich möchte das Abendessen in zehn Minuten auf meinem Zimmer einnehmen«, sagt er ruhig und streckt die Hand nach dem Schlüssel aus, den der einarmige Hotelbesitzer ihm reicht. Dann geht er hinauf, bewegt sich fast lautlos. Dabei kann es nicht am Gewicht liegen. Dieser Jim Drago-Miller wiegt gewiss nicht weniger als hundertachtzig Pfund.
Wie macht er das nur? Dies fragt sich der Hotelbesitzer.
Indes betritt Jim Drago das Zimmer und unterlässt es, die Lampe anzuzünden. Er tritt ans Fenster und öffnet es.
Auf der anderen Seite der Straße befindet sich die Longhorn Bank.
Er zieht den Vorhang zu, zündet die Lampe an und legt seine Jacke ab. Er trägt den Colt nicht im Holster, sondern einfach nur im Hosenbund. Es ist eine nicht sehr große und schwere Waffe. Aber nachdem er sich in der Ecke beim Waschtisch die Hände und das Gesicht wusch, öffnet er seine Reisetasche und holt einen normalen und mit Patronen gefüllten Waffengurt mit einem Linksholster und einem schweren Colt, dessen mattes Schwarz ein drohendes Geheimnis auszuströmen scheint, hervor.
Er hängt den Gürtel mitsamt der Waffe über die Stuhllehne.
Und als es an der Tür klopft, erwidert er ruhig, dass man eintreten solle. Er betrachtet die junge Frau aufmerksam. Sie ist hübsch, und in ihren blauen Augen ist ein waches und interessiertes Funkeln. Sie hat einen ausdrucksvollen Mund, der sie wahrscheinlich stets verraten wird.
Ihr Kleid sitzt knapp und ist eine winzige Idee zu weit ausgeschnitten. Sie bewegt sich sehr weiblich und weiß bestimmt, dass dies allen Männern gefällt. Denn sie ist eine, die gefallen will.
Sie lächeln sich an – und das Lächeln des Mannes ist irgendwie nachsichtig.
»Ich bin Lily«, sagt sie, indes sie den Tisch deckt. »Wenn Sie etwas brauchen, dann lassen Sie es mich nur wissen. Mein Schwiegervater sagte, dass ich Sie besonders gut bedienen müsse.«
»Sie sind die Schwiegertochter des Hotelbesitzers?« So fragt er zurück und mustert sie mit einem ruhigen Blick, der ihr gefällt. Denn sie hebt ihr Kinn und strafft sich. Ihr Kleid wird noch enger dadurch.
»Ich bin Witwe«, sagt sie. »Mein Mann kam sehr krank aus dem Krieg heim und starb zwei Jahre später. Ja, ich bin hier die Schwiegertochter. Aber eigentlich …« Sie verstummt und setzt ihre Arbeit wieder fort. Mit wenigen Handgriffen hat sie den Tisch endgültig gedeckt. »… war ich nie richtig verheiratet«, beendet sie plötzlich ihren Satz und geht zur Tür. Dort wendet sie sich Jim Drago noch einmal zu. Ihr Lächeln ist etwas verloren. »Ich schwatze mit jedem Fremden«, murmelt sie, »von dem ich glaube, er könnte mir etwas von der Welt dort draußen erzählen. Denn diese Stadt hier ist vielleicht gut für eine Frau, die einen Mann und Kinder hat. Aber für eine junge Witwe ist Longhorn ein Grab. Verstehen Sie? Eines Tages werde ich den Mut zum Fortlaufen haben. Aber wohin sollte ich gehen? Wo hätte ein Mädel wie ich die besten Chancen? Verstehen Sie, ich frage jeden Mann, der so wirkt, als wüsste er etwas von der Welt.«
Er betrachtet sie seltsam sanft, und dieser Gesichtsausdruck mildert die dunklen Linien in seinem Gesicht, lässt die Härte daraus schwinden.
»Lily«, murmelt er, »in jeder wilden, hektischen und lebendigen Stadt, in der der Dollar rollt, da sind die Amüsierhallen voll solcher Frauen wie Ihnen. Eines Tages brachen sie aus und suchten nach einer Chance. Sie waren hungrig nach dem Leben. Aber nur wenige schafften es, irgendwo auf irgendeine Art glücklich zu werden. Lily, ich kann Ihnen keinen Rat geben. Auch kenne ich Sie nicht genug. Ich kann Ihnen nicht helfen.«
Er setzt sich nach diesen Worten an den gedeckten Tisch und betrachtet sie nachdenklich, steckt schließlich einen Bissen in den Mund, und obwohl er seinen Hunger nun noch stärker verspürt, kaut er langsam und bedächtig.
»Ich reise hier nur durch und ruhe mich einige Tage aus«, murmelt er schließlich. Und dann fügt er hinzu: »Jetzt möchte ich Ihnen doch einen Rat geben, Lily. Verlassen Sie sich